Springerin

Sexualerleben und Körperkultur
Deutschsprachige Publikationen 1880 – 1932

hrsg. von Karl Toepfer
(Historische Quellen zur Frauenbewegung und
Geschlechterproblematik
, HQ 63)
Alle Titel der Sammlung können einzeln als PDF-Datei bestellt werden.

Hauptausgabe

600 Werke mit zus. ca. 105.000 Seiten auf 1.446 Mikrofiches, 2006, ISBN 3-89131-465-5
Diazo negativ: EUR 6.500,– (exkl. Mwst.) / EUR 7.735,– (inkl. Mwst.)
Silber positiv: EUR 7.900,– (exkl. Mwst.) / EUR 9.401,– (inkl. Mwst.)
Katalog

Supplement 1

250 Werke mit zus. 37.150 Seiten auf 580 Mikrofiches, 2007, ISBN 978-3-89131-486-9
Silber positiv: EUR 2.700,– (exkl. Mwst.) / EUR 3.213,– (inkl. Mwst.)
Katalog

Das Sexualerleben im deutschsprachigen Diskurs der Moderne

Im 19. Jahrhundert unternahm die westliche Kultur den selbstbewußten Versuch, eine moderne Identität ihrer selbst zu konstruieren und die Moderne als notwendige Alternative zur repressiven Autorität der Vergangenheit zu definieren. Sie löste damit einen breiten Diskurs über Bedeutung und Funktion des Sexualerlebens aus. War das Sexualerleben ein historisches Phänomen, der Träger oder das Objekt des soziokulturellen Wandels, oder war es ein »natürliches« Phänomen, das sich jedem Versuch einer modernen Durchdringung widersetzte?

Zwischen 1880 und 1932 wurde die deutsche Kultur mit einer bis dahin unvorstellbaren Zahl von Veröffentlichungen zu diesem Themenkreis zum maßgeblichen Ort des Diskurses über das sexuelle Erleben. Von außen gesehen könnte man sogar sagen, daß die deutsche Kultur jener Zeit berüchtigt war für das Ausmaß und die Offenheit dieses Diskurses, dessen sozusagen grenzenlose Entfaltung sie vor dem Hintergrund der wachsenden Unsicherheit über die Bedeutung des Sexualerlebens erlaubte und ermutigte.

Tatsächlich war Deutschland schon vor dem Ersten Weltkrieg gegenüber Autoren, insbesondere im Bereich Sexualität und Förderung der physischen Gesundheit, weit liberaler gewesen als irgendeine andere Nation. Während der Weimarer Republik nahm diese Freiheit Ausmaße an, die vielen in Deutschland und in anderen Ländern als gefährlich und symptomatisch für eine »dekadente« Toleranz erschienen. Trotz dieser Liberalität standen deutschsprachige Verfasser bei sexuellen Themen auch in Deutschland zahlreichen Schwierigkeiten mit der Zensur gegenüber. Die Polizei konfiszierte immer wieder Publikationen – zeitweise verzeichnet in der sogenannten »Polunbi«-Liste – ; diese Werke fanden noch nicht einmal in den größten öffentlichen Forschungsbibliotheken Zuflucht.

Die vielfältigen Ausformungen des Diskurses über das sexuelle Erleben verhinderten, daß eine bestimmte Disziplin oder Autorität die Kontrolle über ihn gewann. Viele Bereiche und Interessengruppen trugen zu ihm bei und verliehen ihm unzählige widersprüchliche Stimmen.

Er war in keiner Phase die Projektion eines einheitlichen nationalen Bewußtseins oder einer solchen Stimmung; er war vielmehr die Projektion einer Angst, eines Vorurteils und auch einer Neugier, die den deutschsprachigen Kulturkreis durchdrang und zugleich auf ihn beschränkt blieb.

International wurde gerne die psychoanalytische Richtung als der Höhepunkt oder die entscheidende Errungenschaft des modernen deutschsprachigen Diskurses über das sexuelle Erleben angesehen. Die psychoanalytische Theorie erlaubte es Nichtdeutschen, der Vorliebe für die Beschäftigung mit dem Sexualerleben einen wissenschaftlichen und therapeutischen Wert zuzuschreiben und gleichzeitig anzunehmen, daß diese Theorie selbst nur unter Bedingungen hatte entstehen können, die einem bestimmten nationalen oder kulturellen Kontext eigen waren. Mit anderen Worten, es bedurfte einer »perversen« Kultur, um eine Theorie der menschlichen Persönlichkeit hervorzubringen, welche die transkulturelle und bestimmende Macht des »normalen« sexuellen Erlebens bei der Identitätsstiftung in jedem beliebigen kulturellen Kontext offenbarte.

In Deutschland selbst gewann die Psychoanalyse im modernen Diskurs über das Sexualerleben nie eine zentrale Bedeutung. Zwischen 1900 und 1932 provozierte das Werk Freuds und seiner Schüler zwar viel Neugier und wurde reich kommentiert, doch es erschien nie wichtiger als das Werk anderer, die sich sittengeschichtlichen oder ästhetischen Perspektiven des sexuellen Erlebens widmeten.

Sexualerleben und Körperkultur

Ein Teil der Produktivität dieses Diskurses ist darauf zurückzuführen, daß viele deutsche Denker das Sexualerleben weiter definierten als andere. Für sie brachte der neue oder moderne Diskurs über die Sexualität neue, emanzipierte Wege mit sich, den Körper zu sehen und seine »Bedeutung« zu verstehen. So verwob sich die Sexualkultur untrennbar mit der Körperkultur, denn die moderne Identität schrieb sich eine zuvor ungekannte Autorität zu, ihre körperliche Manifestation zu kontrollieren und zu definieren. Schriften über Gymnastik, Tanz, Sport, Haltung, kosmetische Verschönerung, Nacktkultur und (besonders nach dem Ersten Weltkrieg) prothetische Therapie wurden zum Teil eines breiteren Diskurses über die Attraktivität bestimmter Körperformen und die mit ihnen verknüpften Bedeutungen und Werte. Die Entwicklung eines individuellen und sozialen Verantwortungsbewußtseins für die Bedeutung des Körpers machte es aber schwierig, die Perfektion der physischen Schönheit von konkurrierenden Ansätzen zu trennen, die eugenische Reformen, Rassenhygiene, Bevölkerungskontrolle, Überwachung der Prostitution, Eindämmung von Geschlechtskrankheiten, Ehehygiene etc. betrafen.

Wahrnehmung und Erforschung des Diskurses über Sexualerleben und Körperkultur

Titelbild: Das Reich des Kusses

Seit 1933 ist die Geschichte des frühen modernen Diskurses über das Sexualerleben im deutschsprachigen Raum primär aus streng einzelfachlicher Perspektive geschrieben worden. Gesundheitsexperten sahen darin ein medizinisches Problem, Sozialwissenschaftler beriefen sich auf Statistiken und Studien von Staatsministerien und Forschung. Die Literaturwissenschaft entwickelte insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg die Tendenz, zu untersuchen, welche Literatur in einer Weltgeschichte, die wesentlich durch die Ambitionen des Dritten Reiches geprägt worden war, »am besten« den Fortschritt der deutschen Kultur zur Erfüllung einer höheren Bestimmung repräsentierte. Man konzentrierte sich auf eine Handvoll Autoren, deren Werk (und Leben) irgendwie die Glaubwürdigkeit der deutschen Sprache und Vorstellungskraft bewahrte, weil sie einige nützliche (und stark mißtrauische) Haltungen gegen die Errungenschaften und Werte der Periode 1880 bis 1932 bewahrten. Wenn man die »kranke« Sexualität verstehen wollte, die zum Dritten Reich geführt hatte, las man die anerkannten Autoren, deren Werke von den Obsessionen, Perversionen und Illusionen einer Vergangenheit befreiten, die man für den fürchterlichen Weg der westlichen Zivilisation nach 1933 verantwortlich machte: Thomas Mann, Arthur Schnitzler, Hermann Hesse, Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Franz Kafka, Rainer Maria Rilke und noch einige andere. Die große Menge an Literatur über das Sexualerleben aus der frühen Moderne, verstanden als überflüssige Machwerke einer Kultur, die zu viele Fehler begangen hatte, blieb in dunkle Bibliotheksregale verbannt.

In den 1980er Jahren begannen Historiker und Historikerinnen, die sich mit der Geschichte des Feminismus und der Homosexualität befaßten, den modernen Diskurs über das Sexualerleben neu zu bewerten. Doch auch jetzt wieder konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf die Biographien und Leistungen einiger weniger Prominenter wie etwa Magnus Hirschberg oder Helene Stöcker, und nicht auf den breiteren Diskurs, zu dem sie gehörten. Darüber hinaus berührte ein großer Teil der feministischen Arbeiten die Themen Sexualerleben und Körperkultur kaum, sondern konzentrierte sich auf Konflikte, die sich in Bereichen wie Bildungschancen, Arbeit, Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen und Rechtstellung abspielten. Kurz gesagt, ein großer Teil der Geschichtsschreibung nach 1933 über den Diskurs der Jahre bis 1933 wurde ohne einen Zugang zu und vielleicht sogar ohne das Wissen über eine enorme Menge an relevanter Literatur geschrieben. Um den Diskurs über das sexuelle Erleben zu verstehen, kann man sich aber nicht ausschließlich auf die Äußerungen von Medizinspezialisten oder Philosophen stützen. Man muß außerdem zur Kenntnis nehmen: Anthropologische Abhandlungen, Nacktkultur-Magazine, erotische Gedichte, soziologische Dissertationen über die Prostitution, enzyklopädische Kompilationen zur Sittengeschichte, Berichte aus dem gesellschaftlichen Untergrund, sensationslüsterne Bekenntnisse und Biographien, Photoalben, Kunstmonographien, sexualreformerische Manifeste, expressionistische Dramen, Exposés zur Filmkultur, Theorien über die Musik in der Erotik, Bildmaterial zu zeitgenössischen Trends der Körperkultur und Gymnastik und des Tanzes.

Die Mikrofiche Edition

Die Bibliotheca Germanorum Erotica & Curiosa von Hugo Hayn (1843 – 1923), deren erster Band 1885 erschienen war, enthielt 1929 mit Nachträgen 70.000 Einträge. So eindrucksvoll diese Bibliographie ist, muß doch davon ausgegangen werden, daß viele der in ihr verzeichneten Publikationen heute nicht mehr erhalten sind. Bibliotheken mit Sammelschwerpunkten in diesem Bereich, wie die Staatsbibliothek Berlin, verloren einen großen Teil ihrer Bestände durch Kriegseinwirkungen, ein anderer Teil der Werke dürfte nie den Weg in wissenschaftliche oder öffentliche Bibliotheken gefunden haben und ist heute, unabhängig von der Frage der tatsächlichen Erhaltung, nicht mehr nachweisbar.

Von 1998 bis 2005 hat der Harald Fischer Verlag in seiner Edition Bibliothek der Frauenfrage in Deutschland 6.000 Werke zur historischen Frauenbewegung und Geschlechterproblematik zusammengetragen, von denen viele in den Diskurs über Sexualerleben und Körperkultur hineinreichen. Die jetzt neu vorgelegte Edition, in deren Mittelpunkt dieses Thema steht, berücksichtigt – der Heterogenität des Diskurses Rechnung tragend – gezielt auch solche Werke, die für die frühere Edition als zu peripher angesehen wurden. Auch zeigt sich an den Titellisten beider Editionen immer wieder die unauflösliche Verknüpfung und Überschneidung der Diskurse, so daß genaugenommen erst beide Editionen zusammen den Anspruch erheben können, den Themenbereich Sexualerleben, Körperkultur, Frauenfrage und Geschlechterproblematik umfassend zu erschließen.

Der Herausgeber

Karl Toepfer ist Professor für Theaterwissenschaften an der San José State University, Kalifornien. Der Themenkreis Sexualerleben und Körperkultur gehört zu seinen Forschungs- und Publikationsschwerpunkten, siehe z. B. sein Werk Empire of Ecstasy. Nudity and Movement in German Body Culture, 1910 – 1935 (University of California Press, 1998).