Der Kunstwart
München, 1.1887 – 50.1936/37
Rundschau über alle Gebiete des Schönen; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben
(ab 26. 1912/13 wechselnde Titel)
(Kultur – Literatur – Politik ; 20)
53.514 Seiten auf 646 Mikrofiches
2006, ISBN 3-89131-468-X
Diazo negativ: EUR 3.500,–
(ohne Mwst.)
/
EUR 4.165,–
(inkl. Mwst.)
Silber negativ: EUR 4.200,–
(ohne Mwst.)
/
EUR 4.998,–
(inkl. Mwst.)
»Der Kunstwart war damals eine geistige Macht in Deutschland«. So blickte Theodor Heuß, der erste deutsche Bundespräsident, auf jene Zeitschrift zurück, für die er »damals« – zwischen Fin de siècle und Erstem Weltkrieg – als junger Rezensent geschrieben hatte.
Die Geburtsstunde dieses zweiwöchentlich erscheinenden Kulturblattes hatte 1887 in Dresden geschlagen, einem Zentrum der aufkommenden »Lebensreform«-Bewegung. Sie wollte der industriell entfremdeten Umwelt naturgerechtere Möglichkeiten menschlichen Lebens abtrotzen – und diese zugleich ästhetisieren. In diesem ganzheitlichem Geist wandte sich Kunstwart-Gründer Ferdinand Avenarius, ein Neffe Richard Wagners, an eine wachsende bildungshungrige, aber unakademische Mittelschicht: Ihr eine »Rundschau über alle Gebiete des Schönen« zu bieten, verstand er als moralisch-ästhetische Volkserziehung. Und so erfaßte seine Revue nicht nur Literatur, Malerei, Musik, Theater und die noch junge Fotografie, sondern ausdrücklich auch die Gebrauchskunst: vom Bucheinband über Damenhut und Tischdecke bis zum Ziegelofen. Als Prinzip für das Produktdesign verfocht man die Harmonie von Material und Zweck, für die darstellenden Künste einen nationalromantischen Konservatismus, eine »echt deutsche« Ästhetik – wofür eine Mischung aus Realismus und mystischer Innerlichkeit wie in den Malweisen Dürers, C. D. Friedrichs oder Böcklins galt.
Die anfangs eher magere Auflage steigerte Avenarius ab 1894 durch einen Wechsel zum Münchner Callwey-Verlag. Auf den folgenden Höhen der Erfolgskurve – mit Auflagen von über 20.000 Heften – konnte der Kunstwart seine Postulate durch Anschauungsmaterial flankieren: Von 1898 an wurden dem Heft Bildreproduktionen und Noten beigelegt. Um Leser und Sympathisanten auch institutionell zusammenzuschließen, gründete Avenarius 1902 den »Dürerbund«. Dieser war Resonanzraum für den Vertrieb sogenannter » Kunstwart-Unternehmungen« – Bücher, Kalender, Bildmappen –, vor allem aber betrieb er »Kulturarbeit« durch politische Eingaben, künstlerische Aufträge und einen eigenen Pressedienst. Der »Kunstwartgeist« wurde bald sprichwörtlich, und seinen geschmacksbildenden Einfluß beschwört wiederum Theodor Heuß: »Man sah (...) am Wandschmuck, an der Möbelwahl, vor den Bücherregalen, ob hier ein Bezieher des Kunstwart hauste. Das hat es vergleichbar vorher und nachher in Deutschland nicht mehr gegeben.« Das Blatt orientierte seine Leser nicht nur über Ästhetisches, sondern auch über die Marktmacht ihres eigenen Kaufverhaltens – notfalls per Abschreckung: Als »Hausgreuel« prangerte eine Bildtafel diverse Produkte der Nippes-Saison 1908 an, darunter eine Mundharmonika in Goldfischform.
Mit einer Phase politischer Radikalisierung im Krieg – von 1915 bis 1919 erschien das Blatt unter dem Titel »Deutscher Wille« – war der Zenit des Erfolgs überschritten. Den Leserschwund konnte auch Avenarius’ Nachfolger Wolfgang Schumann nicht eindämmen: Seine Offenheit nach links überforderte die Redaktion, sein Intellektualismus die Leserschaft. Ab 1921 erschien der Kunstwart nur noch monatlich, ab 1934 – da hieß er bereits »Deutsche Zeitschrift« – zweimonatlich. Das 50. Erscheinungsjahr 1937 wurde zugleich sein letztes.
Kultur und Politik, Institutionengeschichte und Lebenspraxis: Auf viele Facetten erstreckt sich der Quellenwert dieses eigenartigen Blattes, das Franz Kafka las, für das Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal schrieben und in dem 1912 der Publizist Moritz Goldstein einen Streit jüdischer Intellektueller zwischen Zionismus und Deutschpatriotismus auslöste, die »Kunstwart -Debatte.« Anders als etwa »Pan« oder die »Jugend« ist der Kunstwartnicht selbst als »Gesamtkunstwerk« angelegt. Mit konsequent preiswerter Ausstattung verfolgt er den gleichsam anti-elitären Anspruch größtmöglicher Reichweite. Auch darin erweist sich, daß er die alltags-, sozial- und ästhetikgeschichtlichen Prozesse seiner Zeit nicht nur protokolliert, sondern selbst ein Kind ihres Zusammenfallens ist: in der »Lebensreform«, einer Bewegung von faszinierendem Breitenanspruch. Für viele in Deutschland einst wie jetzt stark präsente Denkmuster – etwa die der Umweltbewegung, der Freikörperkultur, der Anhänger von Reformkost oder der wert- und nachhaltigen Werkstattproduktion – ist sie ein wesentlicher Traditionsstrang. Mit Stellungnahmen, deren Vielzahl und Meinungsfreude seinen programmatischen Anspruch betont, wertet der Kunstwartfünfzig politisch und kulturell bewegte Jahre lang alle Felder der Ästhetik aus. Nicht minder steht er aber für fünfzig Jahre Ideologiegeschichte des deutschen Konservatismus: Vom wilhelminischen Stolz der »verspäteten Nation« über die »Konservative Revolution« der Weimarer Republik bis hin zur »Inneren Emigration« der NS-Zeit.