Albert Eulenburgs »Real-Encyklopädie der
gesammten Heilkunde«
Michael Stolberg
Ein »deutsches Kunstwerk [...], dem bis heute noch kein anderes Volk Gleichwertiges an die Seiten stellen konnte«, nannte Iwan Bloch 1910 die »Real-Encyklopädie der gesammten Heilkunde« seines langjährigen Freundes Albert Eulenburg, ein Werk, das den »Wunderbau der modernen Medizin allen sichtbar machte«.1 Solche Formulierungen spiegeln den Geist, die Stimmung der Zeit, in der sie geprägt wurden. Nach Jahrzehnten der Orientierungslosigkeit, der Vielfalt unterschiedlicher Krankheitstheorien, des Streits über die Sicherheit jeglichen medizinischen Wissens überhaupt und der wachsenden Erkenntnis der ärztlichen Ohnmacht in den meisten Krankheitsfällen, schien die Medizin gegen Ende des 19. Jahrhunderts die endgültige Metamorphose zur vollwertigen Naturwissenschaft vollzogen zu haben. Eine Explosion des Wissens fand statt. Immer feiner wurden unterschiedliche Krankheitsformen unterschieden, Krankheitssymptome organischen Veränderungen oder gestörten Funktionsabläufen zugeordnet, genauere diagnostische Verfahren entwickelt. Die Bakteriologie eröffnete neue Perspektiven im Verständnis der Infektionskrankheiten und deren praktischer Bekämpfung. Anti- und Asepsis und neue Qperationsverfahren revolutionierten die operative Chirurgie. Die Aufsplitterung in medizinische Spezialdisziplinen schritt rasch voran. Die Ausbreitung der Naturheilkundebewegung, deren Botschaften in jenen Jahren bei Millionen von Menschen auf breite Resonanz stießen, zeigt zwar, daß Teile der Bevölkerung dieser »modernen Medizin« durchaus mit einem gehörigen Maß an Skepsis begegneten. Entscheidende Verbesserungen in der Krankheitsbehandlung ließen vor allem bei den inneren Krankheiten weiter auf sich warten. Der Markt wurde mit einer Flut kommerziell gefertigter Arzneimittel von schon damals fragwürdiger Wirksamkeit iiberschwemmt. Doch das Vertrauen in die Naturwissenschaft als der Königsweg zu Wahrheit und Welterkenntnis war in breiten Kreisen von Bürgertum und Arbeiterschaft zur tragenden Weltanschauung geworden. Der naturwissenschaft-
lichen Medizin schien die Zukunft zu gehören.2
In diese Zeit der schnellen Wissensexpansion und Spezialisierung fällt die Veröffentlichung der »Real-Encyklopädie der gesammten Heilkunde«. Dieses Werk stellt damit zugleich in Deutschland für das gesamte 19. Jahrhundert den ehrgeizigsten Versuch dar, das medizinische Wissen der Zeit in enzyklopädischer Vollständigkeit darzubieten. In Konzeption und Redaktion ist es das Werk eines Mannes: Albert Eulenburgs. Albert Eulenburg (1840–1917) war Sohn eines jüdischen, 1847 konvertierten Berliner Orthopäden und hatte eine breite medizinische Ausbildung teilweise bei den berühmtesten Ärzten der Zeit genossen. Er hörte noch J. Müller, lernte bei L. Traube und A. von Graefe, arbeitete im Labor von E. du Bois-Reymond und kannte R. Remak und W. Griesinger. Der mehrfache und erfolgreiche Wechsel seines Lehr- und Forschungs-Schwerpunkts während seiner Laufbahn belegt seine Vielseitigkeit. Griesinger lenkte sein Interesse zunächst auf das Gebiet der Nervenkrankheiten. Nach der Habilitation und dem offenbar intrigenbedingten Verlust seiner Assistentenstelle baute er mit P. Guttmann jedoch eine private Poliklinik für innere Krankheiten auf. Von Berlin wechselte er 1873 auf den Lehrstuhl für Pharmakologie an der Universität Greifswald. Um sich der dort begonnenen Arbeit an der »Real-Encyklopädie« noch eingehender widmen zu können, gab er seine Professur 1882 wieder auf und kehrte als Extraordinarius für Nervenheilkunde nach Berlin zurück, wo er nun auch eine nervenheilkundliche Praxis führte. 1895 übernahm er die Redaktion der »Deutschen medizinischen Wochenschrift« und 1898/99 gab er mit S. Samuel das »Handbuch der allgemeinen Therapie« heraus. Gegen Ende seines Lebens machte er sich noch einen Namen als Sexualwissenschaftler und war Mitherausgeber der »Zeitschrift für Sexualwissenschaft«3
Die 1. Auflage der »Real-Encyklopädie« erschien bei Urban und Schwarzenberg in 15 Bänden 1880 bis 1883 und bald darauf eine 2. Auflage in 22 Bänden von 1885 bis 1890, gefolgt von 9 ergänzenden Jahrbüchern zur laufenden Aktualisierung. Die 3. Auflage von 1894 bis 1901 bot in 26 Bänden nochmals eine gründliche Überarbeitung und wurde wiederum 1903 bis 1911 durch 9 »Encyklopädische Jahrbücher der gesammten Heilkunde« ergänzt. Diese 3. Auflage aus den Jahren der Jahrhundertwende wurde hier zusammen mit den ergänzenden Jahrbüchern für die Reproduktion ausgewählt. Eine 4. und letzte Ausgabe kam in 15 Bänden 1907 bis 1914 heraus, diesmal unter der gemeinsamen Leitung von Albert Eulenburg und Theodor Brugsch. Bis 1937/38 schloß sich die Veröffentlichung der »Ergebnisse der gesamten Medizin« in 22 Bänden an, die aber nur mehr jeweils eine lose Sammlung aktueller wissenschaftlicher Beiträge ohne lexikalische Anordnung boten.
Eulenburgs »Real-Encyklopädie« entwickelte sich rasch zum konkurrenzlos führenden medizinischen Nachschlagwerk des deutschen Sprachraums in der Zeit um die Jahrhundertwende. Die von über 150 einschlägig spezialisierten Autoren verfaßten Beiträge bieten eine systematische und präzise Abhandlung des damaligen Kenntnisstandes. Umfangreiche Literaturangaben machen es heute noch zu einem wertvollen Findbehelf.
Der damalige Leser- und Benutzerkreis war im übrigen nicht allein auf die Ärzteschaft beschränkt. Für sie war es nach Iwan Bloch ein unentbehrliches Hilfsmittel, doch wurde es darüber hinaus auch von »Naturforschern und Gelehrten geisteswissenschaftlicher Disziplinen als Hauptnachschlagewerk benutzt«.4 In einer Zeit, in der eine breite Laienöffentlichkeit großes Interesse an medizinischen Fragen zeigte und der Markt für Ratgeber und Aufklärungsbücher blühte, konnten die Beiträge der »Real-Encyklopädie« somit durchaus einen wichtigen Anteil an der Verbreitung medizinischer Allgemeinbildung gewinnen. Die Spuren finden sich selbst in der zeitgenössischen Literatur. So lassen die Arbeitsnotizen Thomas Manns zu seinem Roman »Der Tod in Venedig« bis in die wörtlichen Formulierungen hinein unschwer den Beitrag »Cholera« in Eulenburgs »Real-Encyklopädie« als Quelle erkennen.5 Dort fand man unter anderem die Darstellung der seltenen, nicht von heftigem Erbrechen und massiven Durchfällen begleiteten Verlaufsform der asiatischen Cholera, der »Cholera sicca«, ein Wissen, das es ihm erlaubte, seinem Helden Aschenbach einen etwas weniger häßlichen, eines Künstlers würdigeren Tod zu bereiten. Die Reproduktion dieses Werks, so ist zu erwarten, könnte damit auch heute noch nicht nur für den Medizinhistoriker, sondern auch für manchen anderen »Gelehrten geisteswissenschaftlicher Disziplinen« von erheblichem Interesse sein.
1 Iwan Bloch: Albert Eulenburg. Zu seinem 50jährigen Docentenjubiläum am 11. November 1914. In: Medizinische Klinik 10 (1914), S. 1677f.
2 Vgl. beispielsweise Alfred Brauchle: Die Geschichte der Naturheilkunde in Lebensbildern, 2. Aufl. Stuttgart 1951; Claudia Huerkamp: Medizinische Lebensreform im 19. Jahrhundert. Die Naturheilbewegung als Protest gegen die naturwissenschaftliche Universitätsmedizin. In: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 158-1 82; Achim Wölfing: Entstehung und Bedeutung des Begriffes Schulmedizin. Die Auseinandersetzungen zwischen der naturwissenschaftlichen Medizin und Vertretern an- derer Heilmethoden im 19. und 20. Jahrhundert. Med. Diss. Freiburg 1974.
3 Bloch, a.a.O; ders.: Zur Erinnerung an Albert Eulenburg. In: Medizinische Klinik 13 (1917), S. 774-776; Manfred Stürzbecher: Eulenburg, Albert. Beitrag in Neue Deutsche Biographie. Bd. 4. Berlin 1971. S. 683; August Hirsch (Hrg.): Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. 3. Aufl. 2. Bd. München - Berlin 1962, S. 446f. (Mikrofiche Edition der »Zeitschrift für Sexualwissenschaft«: Historische Quellen zur Frauenbewegung und Geschlechterproblematik 8, Harald Fischer Verlag, Erlangen 1992).
4 Bloch, Albert Eulenburg, S. 1677.
5 T. J. Reed: Tod in Venedig. Text, Materialien, Kommentar mit den bisher unveröffentlichten Arbeitsnotizen Thomas Manns. München - Wien 1983, S. 107-1 12; die »Real-Encyklopädie« ist dort allerdings nicht als Quelle identifiziert.