Die »Medicinisch-chirurgische Encyklopädie«
von H. J. Prosch und H. H. Ploss

Michael Stolberg

Für die Ärzte und ihre Wissenschaft bildeten die Jahre um die Mitte des 19. Jahrhunderts im wesentlichen eine Zeit der Krise, der Orientierungslosigkeit, aber auch des produktiven Umbruchs. Die großartigen theoretischen Entwürfe der vorangegangenen Jahrzehnte hatten allem Fortschrittsoptimismus zum Trotz gerade dort keinen erkennbaren Fortschritt gebracht, wo sich Medizin vor allem bewähren mußte: in der Behandlung der Kranken am Krankenbett. Weiterhin waren Aderlaß und Abführmittel die mit Abstand wichtigsten Verfahren bei vielen inneren Krankheiten. Empirische Beobachtung, aber auch die allmählich zunehmende Anwendung statistischer Verfahren förderten eine wachsende Skepsis ob der Wirksamkeit der ärztlichen Behandlungsverfahren. Mancher Arzt suchte einen Ausweg in der verstärkten Beschäftigung mit Hygiene und öffentlicher Gesundheitspflege. Wissenschaftlich begründetes vorbeugendes Handeln schien unter den gegebenen Umständen besser geeignet, den Gesundheitszustand der Menschen günstig zu beeinflussen, als die nachträgliche Therapie entstandener Krankheiten. In der klinischen Medizin zogen führende Ärzte an einzelnen Universitätskliniken – Wien ist dafür das bedeutendste Beispiel – in der Krankenbehandlung ein abwartendes, exspektatives Vorgehen vor, das in seiner extremsten Ausformung mit dem etwas unglücklich gewählten Begriff des »therapeutischen Nihilismus« belegt wurde. Das erschien ihnen immer noch besser, als den Körper mit zweifelhaften, vielleicht sogar schädigenden Arzneimitteln und anderen Verfahren womöglich noch zusätzlich zu belasten.

Damit verlagerte sich gleichzeitig der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Tätigkeit auf die klinische Erforschung der Krankheiten, während das Bemühen um wirksamere Behandlungsverfahren in den Hintergrund trat. Verstärkt griff man die Methoden der Pariser Krankenhausmedizin des frühen 19. Jahrhunderts wieder auf und suchte körperliche Symptome sowie pathologische Befunde, wie sie sich bei der Auskultation mit Stethoskop und bei der Untersuchung von Körperfliissigkeiten ergaben, mit bestimmten Organveränderungen zu korrelieren, die sich bei der Sektion der Verstorbenen zeigten. Man suchte also nach den konkreten, makro- oder mikroskopisch nachweisbaren pathologischen Veränderungen am einzelnen Organ, die den Krankheiten zugrunde lagen, auch wenn diese zunächst als Allgemeinerkrankungen auftraten, und suchte sich das rasch expandierende chemische Wissen der Zeit nutzbar zu machen. Später ergänzt durch die Zellularpathologie sollte dieser Ansatz bald prägend werden und der Theorie und Praxis der Medizin eine neue Richtung geben. Über weite Strecken ist er noch heute das Fundament des herrschenden klinischen Krankheitsmodells.1

Hermann Heinrich Ploss und Hermann Julius Prosch2 stellten sich mit ihrer »Medicinisch-chirurgischen Encyklopädie für praktische Aerzte« bewußt und entschieden hinter diese neuen Entwicklungen. Ausdrücklich bekannten sie sich zur experimentellen Physiologie, zur Verbindung von Klinik und Sektion nach dem Vorbild der Wiener und Prager Schule, zur Einbeziehung chemischer, physikalischer und statistischer Verfahren. Mit entsprechender Bestimmtheit distanzierten sie sich gleich weit »von der vitalistischen Schwärmerei einer naturphilosophischen Richtung als von der rohen Empirie«.3 Mit ihren drei Bänden von 1854–1856 und einem Supplementband von H. H. Ploss aus dem Jahr 1863, bietet ihre Encyklopädie somit einen kurzen, zusammenfassenden Überblick über diese neue Medizin. Ihre Darstellung beschränkt sich jedoch nicht auf die Lehre von den Ursachen und der Pathogenese der einzelnen Krankheiten, sondern bezieht auch ihre Behandlung ausführlich mit ein. Denn auf die konnte ein gewöhnlicher Arzt, im Gegensatz zu seinem Kollegen an der Universitätsklinik, bei aller Skepsis keinesfalls verzichten, wollte er seine Patienten nicht brüskieren. Die beiden Herausgeber und zugleich selbst Verfasser einer beachtlichen Zahl der enthaltenen Beiträge waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung außerhalb Leipzigs noch wenig bekannt. Beide gehörten zu jener Generation jüngerer Ärzte, welche den erneuerten klinisch-anatomisch-experimentellen Ansatz in der Ärzteschaft durchsetzen halfen.

H. J. Prosch, der ältere von beiden, wurde 1816 in Leipzig geboren, und nach einem mehrfach unterbrochenen Medizinstudium an der dortigen Universität 1845 mit einer Arbeit zur Entstehung und chirurgischen Behandlung der Aneurysmen zum Dr. med. promoviert.4 Danach war er Assistent des Leipziger Chirurgieprofessors K. G. Francke. 1852 brachte er das »Taschenbuch für operative Chirurgie« heraus, eine mit eigenen Erfahrungen bereicherte deutsche Übersetzung eines Werks von J. A. Isnard.

H. H. Ploss wurde als Sohn eines Leipziger Kaufmanns 1819 geboren, besuchte das örtliche Gymnasium und anschließend die Universität, an der er 1846 mit einer Arbeit zur Wochenbettpsychose zum Dr. med. promoviert wurde.5 Schon in seiner Studienzeit hatte er von 1843 bis 1846 als Famulus unter dem Gynäkologen Friedrich Ludwig Meissner gearbeitet. Nach Studienabschluß übernahm er das Amt eines Armenarztes und ließ sich als praktischer Arzt nieder. Er war Arzt des Wöchnerinnenvereins und gründete 1854 mit einigen Kollegen die Leipziger geburtshilfliche Gesellschaft, der er sechsmal als leitender und zweimal als stellvertretender Direktor vorstand und vor der er zahlreiche Vorträge hielt.

Beide Herausgeber hatten also zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Enzyklopädie eine rund zehnjährige Berufstätigkeit hinter sich. Beide zeigten dabei mit ihren chirurgischen beziehungsweise frauenheilkundlichen Neigungen eine gewisse Vorliebe für Disziplinen, die theoretischen Spekulationen schon traditionell weniger Raum ließen und stärker auf Erfahrung bauten mußten als die innere Medizin. Ihr späterer Werdegang nahm freilich einen ganz unterschiedlichen Verlauf. Prosch scheint auf weitere wissenschaftliche Tätigkeit völlig verzichtet zu haben. Er arbeitete als praktischer Arzt in Leipzig, wo er 1890 starb. Ploss beschränkte sich zunächst auf kleine Abhandlungen, etwa zu den Ursachen des zahlenmäßigen Geschlechterverhältnisses der Neugeborenen und führte zusammen mit F. Küchenmeister für einige Jahre A. W. Varges »Zeitschrift für Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe« weiter.6 Dann aber, seit den späten 1860er Jahren, entwickelte er sich zu einem der bekanntesten anthropologischen Schriftsteller der damaligen Zeit. Nach einigen kleineren Beiträgen zur Gebärhaltung, zur Art der Abnabelung bei verschiedenen Völkern und zur Couvade, dem Phänomen des Männerkindbetts, 7 veröffentlichte er 1876 in zwei Bänden seine »Anthropologischen Studien« über »Das Kind in Brauch und Sitte der Völker«.8 1885 folgte nach weiteren kleineren Beiträgen erneut zweibändig »Das Weib in der Natur- und Völkerkunde. Anthropologische Studien«. Es wurde zum Standardwerk und – man muß wohl befürchten auch wegen seiner zahlreichen Abbildungen nackter Frauen – zum Publikumserfolg. 1905 war es bei der achten, von Max Bartels verantworteten und stark vermehrten Auflage angelangt. Ploss selbst war freilich noch im Jahr der ersten Auflage, am 13.12.1885 verstorben.

Solche anthropologischen Interessen kamen in der »Encyklopädie« noch nicht zum Ausdruck. Als »handliches, zum Nachschlagen geeignetes Werk«, das »nur das für den Praktiker Wissenswertheste« bieten wollte,9 vermittelt sie dagegen knapp und dennoch umfassend eine Fülle von Informationen über den aktuellen Wissensstand und seine konkrete praktische Umsetzung am Krankenbett in den Jahren nach der Mitte des 19. Jahrhunderts, und das macht sie gerade angesichts des damals zunehmend beschleunigten medizinischen Wandels zu einer wertvollen historischen Quelle.

1 Grundlegend für die Darstellung dieser Entwicklung ist immer noch E. Lesky: Die Wiener medizinische Schule im 19. Jahrhundert. Graz - Köln 1965.

2 Die Schreibweise von »Ploss« oder »Ploß« und auch die Angabe des Vornamens - teils Heinrich, teils Hermann Heinrich - wechselt selbst auf den Titelblättern seiner eigenen Bücher; Hermann Prosch hieß mit zweitem Vornamen Julius, der auf dem Deckblatt der »Encyklopädie« jedoch nicht erscheint.

3 Medicinisch-chirurgische Encyklopädie, Bd. 1, 1854, Vorwort der Herausgeber, S . VII.

4 H. J. Prosch: Nonnulla ad genealogiam aneurysmatum accedente historia aneurysmatis poplitaei methodo Hunteriana sanat. Leipzig 1845 (Aneurysmen sind krankhafte, nicht selten lebensbedrohliche Gefäßerweiterungen); zur Biographie von Prosch vgl. Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. Hrg. v. A. Hirsch. 3. Aufl. Durchgesehen und ergänzt von W. Haberling u.a. München - Berlin 1962, Bd.4, S. 679.

5 H. H. Ploss: De genesi psychosium in puerperio. Leipzig 1846; zur Biographie von Ploss vgl. »Hermann Heinrich Ploss«, in der von Max Bartels herausgegebenen 3. Aufl. von H. H. Ploss: Das Weib in der Natur - und Völkerkunde. Bd. 1. Leipzig 1891, S. V-VIII; den Ausführungen liegt ihrerseits ein Nekrolog aus der Feder des Leipziger Arztes Dr. Sänger zugrunde; s. a. Biographisches Lexikon [wie Anm. 4], Bd. 3, S. 635f; J. Pagel: Biographisches Lexikon hervorragender Aerzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin - Wien 1901 [Repr. in Deutsches Biographisches Archiv. Microfiche-Edition. München u. a. O. J. Fiche 966].

6 Zeitschrift für Medizin, Chirurgie und Geburtshilfe. Neue Folge 1-4 (Bd. 16-19), Leipzig 1862-1 865; Ueber die das Geschlechtsverhältniss der Kinder bedingenden Ursachen. Berlin 1859.

7 Ein ausführliches Werkverzeichnis bietet die 3. Auflage von »Das Weib in der Natur- und Völkerkunde« [wie Anm. 5], S. XXI f

8 Eine dritte, posthum von B. K. Renz überarbeitete und betreute Auflage erschien 191 1/12 in Leipzig.

9 o H. H. Ploss in seinem Vorwort zum Supplementband von 1863, S. VI.