Das »Medizinische Realwörterbuch«
des Johann Friedrich Pierer

Michael Stolberg

Der Name Pierer gehört zu den bekanntesten in der Geschichte der deutschen, wenn nicht der europäischen Lexikographie. Das große 1822 begonnene Pierersche »Encyclopädische Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe« steht zusammen mit den Werken von Brockhaus und Ersch/Gruber am Anfang der Erfolgsgeschichte des deutschen Konversationslexikons.1

Die Grundlagen für diese ehrgeizige Unterfangen legte Johann Friedrich Pierer durch den Aufbau eines erfolgreichen Verlagsunternehmens, und diesen Grundlagen verdankt sich auch das hier vorliegende »Medizinische Realwörterbuch«. Am 22.1.1767 als Sohn eines Obersteuereinnehmers und Stadtsyndicus in Altenburg geboren, studierte Pierer in Erlangen und Jena Medizin und wurde 1798 zum Dr. med. promoviert.2 Nach einer Studienreise nach Berlin, Wien, Straßburg und Göttingen ließ er sich 1790 als praktischer Arzt in Altenburg nieder. 1792 wurde er Landphysikus und lehrte am anatomischen Institut. 1798, mittlerweile herzoglicher Leibarzt, begann er seine sich rasch ausweitenden publizistischen und verlegerischen Aktivitäten. Er gründete mit der Medizinischen Nationalzeitung (ab 1800 unter dem Titel Allgemeine medizinische Annalen des 19. Jahrhunderts) eines der erfolgreichsten Organe der zeitgenössischen medizinischen Publizistik. 1799 erwarb er die Hofbuchdruckerei in Altenburg und ergänzte diese 1801 mit einem Buchhandel, dem Literarischen Comptoir. Parallel zu Druck und Vertrieb eines breiten Spektrums von Werken anderer Autoren begann er in den folgenden Jahren Pläne für großangelegte eigene Veröffentlichungen zu entwickeln. Die Publikation einer »Bibliotheca iatrica«, einer umfassenden Sammlung der großen Werke der abendländischen Medizingeschichte wurde 1806 mit der Veröffentlichung hippokratischer Werke in drei Bänden begonnen.3 Dann aber verlief das Projekt im Sande und wurde nicht weiterverfolgt.

Für die Verwirklichung des Medizinischen Realwörterbuches setzte Pierer dann 1816 fast alles auf eine Karte. Er verkaufte seine gesamte übrige Verlagsproduktion an Brockhaus in Leipzig und konzentrierte sich ausschließlich auf dieses Vorhaben. Wie Pierer in seiner Einleitung zum ersten Band darlegt, sollte das Gesamtwerk in drei Abteilungen oder »Zyklen« unterteilt sein. Die ersten beiden Zyklen sollten die Grundlagen zum Verständnis der Krankheitsentstehung (Anatomie, Physiologie, Pathologie) und Krankheitsvorbeugung oder -behandlung (Diätetitik, Arzneimittellehre) vermitteln. Der dritte, »synthetische« Zyklus, würde dann Klinische Medizin, Chirurgie, Geburtshilfe und Staatsarzneikunde gewidmet sein, in denen sich das Wissen um die physiologischen und pathologischen Zustände und Vorgänge im Körper mit dem Wissen um den rechten praktischen Umgang mit Krankheit und Krankheitsgefahr verband.

Dieser ehrgeizige Plan blieb in großen Teilen unverwirklicht. Die hier reproduzierten Bände zur Anatomie und Physiologie verließen als einzige tatsächlich die Druckerpresse. Die Gründe für das Scheitern können wir nur vermuten. Da schon diese erste Unterabteilung acht Bände umfaßte, war ein Gesamtumfang von rund 80 Bänden wohl die untere Grenze des zu Erwartenden. Hierfür in Deutschland eine ausreichende Zahl von Zahlungskräftigen Subskribenten zu finden, dürfte selbst einem erfolgreichen Buchhändler wie Pierer es war, schwergefallen sein, obschon sich das Wörterbuch ausdrücklich nicht nur an Ärzte, sondern auch an »gebildete Personen aller Stände»richtete. Dazu kam die hohe Arbeitsbelastung, gar falls Pierer vorhatte, auch weiterhin einen erheblichen Teil der Beiträge selbst zu schreiben, sei es aus finanziellen Gründen, sei es aufgrund der Schwierigkeit, Autoren zu finden, die seinen hohen Ansprüchen genügten. Immerhin ging er weiter seiner ärztlichen Tätigkeit nach.4 Daß er mit dem dritten Band Ludwig Choulant als Mitarbeiter und Mitherausgeber gewann, bestärkt die Vermutung, daß er die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreicht sah.

Die vorliegenden acht Bände zur Anatomie und Physiologie sind jedoch weit mehr als bloßes Fragment. Sie bilden eine in sich abgeschlossene Einheit. Für den Bereich der Anatomie ermöglichen sie den raschen Zugriff auf das zeitgenössische anatomische Wissen und seine Terminologie, mit etymologischen Herleitungen und synonymen Entsprechungen. Den eigentlichen Reiz des Lexikons machen jedoch für den heutigen Leser seine im weitesten Sinne physiologischen Beiträge aus. Sie vermitteln einen breiten Überblick über einen Bereich der Medizin, der damals aufgrund widersprüchlicher Theorien über die entscheidenden Determinanten körperlicher Vorgänge und der Entstehung von Krankheiten stark in Bewegung geraten war. Vor allem aber macht sich hier eine Auffassung von Medizin geltend, die sich in hohem Maße als philosophische Disziplin versteht.

Dies geschieht freilich nicht in der Weise einer Ableitung medizinischer Theorie und Praxis aus spekulativ begründeten naturphilosophischen Axiomen. Pierer nimmt für sich und sein Werk die Haltung eines rationellen Empirismus in Anspruch. Dem entspricht die eingehende Beschäftigung mit den Werken des Hippokrates, mit der schriftlichen Überlieferung jener Medizin also, die im Lauf der Medizingeschichte immer wieder als Modell einer beobachtenden, empirischen Medizin zum Bezugspunkt antispekulativen Denkens wurde.

Der philosophische Anspruch von Pierers Lexikon macht sich vielmehr vor allem in der Weise geltend, daß er, ergänzend zur Abhandlung konkreter Bestandteile, Zustände und Veränderungen im menschlichen Körper, den Menschen auch in seiner moralischen und geistigen Natur als wesentlichen Gegenstand der Medizin begreift. Er tut dies, ohne diese Seiten des Menschen einerseits auf bloße körperliche Prozesse, beispielsweise auf bestimmte Säfte- oder Erregungsverhältnisse zurückzuführen, aber auch ohne die Deutung körperlicher Vorgänge letztlich auf die Einordnung empirischer Phänomene in die axiomatische Struktur eines philosophischen, vom Primat des Geistigen geprägten Systems zu reduzieren.

Dieses Werk bietet also mit anderen Worten den recht einzigartigen Versuch eines vollständigen Lexikons der medizinischen Anthropologie.5 Es traf in eine Zeit, in der solche Fragen sehr lebhaft diskutiert wurden, angeregt durch die philosophischen Neuerungen, aber auch etwa durch die vermehrte Begegnung und geistige Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und Rassen. Pierer selbst hatte bereits 1799 begonnen, im kleinen Kreis anthropologische Vorlesungen zu halten. Er scheint keinem festen philosophischen System gefolgt zu sein, sondern aufklärerische und romantische Tendenzen eklektisch auf eigene Weise verbunden zu haben. Er war Freimaurer und fungierte bis zu seinem Tod am 21.12.1832 22mal als hammerführender Meister in der Loge Archimedes in Altenburg. Über seine Religionstheorie urteilten Zeitgenossen denn auch, es »möchte dieselbe wohl nicht vor der kirchlichen Orthodoxie bestanden haben.«6 Dem breiten Erkenntnisinteresse des Lexikons entspricht die Auswahl der Schlagwörter. Sie beschränkt sich nicht auf das Feld dessen, was wir heute im engeren Sinne als »Physiologie« begreifen. Unter den insgeamt 1259 Artikeln haben vielmehr gerade die ausführlichsten Abhandlungen Begriffe wie »Dynamik«, »Ich«, »Leben« oder »Naturphilosophie« zum Gegenstand. Diese Abschnitte boten ihren Verfassern Gelegenheit, zentrale Themen und Argumente der zeitgenössischen wissenschaftlichen medizinischen und philosophischen Diskussion darzulegen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Ausführlich kommen dabei die neuesten, damals aktuellen Auffassungen oder Erkenntnisse unter Hinweis auf die einschlägigen neuesten Arbeiten zu Wort.

So bietet dieses Werk dem heutigen Leser über die Kenntnis des Stands der damaligen anatomischen und physiologischen Wissenschaft im heutigen Sinne hinaus, ein knappes, aber bei zentralen philosophischen und anthropologischen Themen dennoch umfassendes Bild der Vorstellungen, das sich wichtige Teile der damaligen Medizin und Philosophie vom Menschen machten. Umfangreiche Literaturhinweise eröffnen, für den, der ihn sucht, den Weg weiter in die Tiefe der zeitgenössischen Debatten.

1 An der Konzeption dieses großen Werks war Johann Friedrich Pierer von Anfang an beteiligt und arbeitete bis zum 18. Band selbst mit. Pierer kaufte das Projekt bald, in einem frühen Stadium, für sein eigenes Verlagsunternehmen von Aug. v. Binzer auf. (vgl. Allgemeine deutsche Biographie. Bd. 26. Berlin 1970, S. 117). Die Redaktion übernahm später sein Sohn Heinrich August.

2 Zur Bio- und Bibliographie vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen, Jahrgang 10 (auf das Jahr 1832), 1834; Das gelehrte Teutschland, 5. Aufl., Bd. 10 (1803), Bd. 15 (1811) und Bd. 19 (1 823), beide wiedergegeben im Deutschen biographischen Archiv (Microfiche-Reproduktion); Dictionnaire historique de la médecine ancienne et moderne. Hrg. v. J. E. Dezeimeris, Ch. P. Ollivier P. und J. Raige-Delorme, Paris 1828-1839, Bd. 4, S. 7 14f; Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. Hrg. v. A. Hirsch, 3. Auflage. Durchges. U. erg. von W. Haberling, F. Hübotter und H. Vierordt, München-Berlin 1962, Bd. 4, S. 602f.

3 Bibliotheca iatrica usui medicorum omnis aevi dicata; dieses Werk wurde später von Brockhaus unter dem Titel »Hippocratis Coi Opera quae exstant, in sectiones VII divisa« vertrieben.

4 Allerdings tauschte er 1814 das Landphysikat mit dem Stadt- und Amtsphysikat, was ihm einiges Reisen erspart haben dürfte.

5 Das hat aufgrund der alphabetischen Anordnung zuweilen eigenartige Nachbarschaften zur Folge, etwa wenn auf die ausführliche Abhandlung des Begriffs »Gott« unter Einschluß einer Diskussion der Gottesbeweise, der Abschnitt über die Graafischen Bläschen folgt.

6 Neuer Nekrolog [wie Anm. 2].