Die »Onomatologia medica completa« von 1755/56
Michael Stolberg
Eine »Onomatologia medica completa«, eine vollständige medizinische Wortkunde, versprachen die anonymen Autoren des vorliegenden Werks ihren Lesern. Dem ersten Band zur inneren Medizin und Pharmazie ließen sie schon 1756 einen zweiten Band zu Anatomie und Chirurgie folgen, der in die vorliegende Edition gleichfalls mit aufgenommen wurde. Rund zehn Jahre nach dem Erscheinen des berühmten »Medicinal dictionary« von Robert James, das kurz darauf von Diderot, Eidous und Toussaint ins Französische übersetzt und von Julien Busson in Paris herausgegeben wurde,1 legten die Autoren damit auch einer deutschen Leserschaft ein modernes, volkssprachliches medizinisches Lexikon vor. Sie hüpften damit freilich in Deutschland an eine ältere Tradition an, als deren Urheber der Königsberger Professor Johann Jakob Woyt mit seinem »Gazophylacium« von 1709 gelten kann.2 Der allmähliche Bedeutungsverlust dieses älteren Werks, das bis 1750 immerhin schon ein Dutzend Auflagen erfahren hatte, dürfte sich denn auch ganz wesentlich der Konkurrenz durch die neue »Onomatologia« verdanken.3
Den beiden genannten Bänden der »Onomatologia medica completa« folgte 1758 der erste Band eines mehrbändigen dritten Werks nach, der »Onomatologia medica completa seu onomatologia historiae naturalis«.4 Die weitläufige Begründung der Verfasser, daß die Kenntnis der Naturgeschichte auch viel zum Verständnis des menschlichen Körpers und der Arzneimittel beitrage, überzeugt freilich nicht. Die Berührungspunkte der ausführlichen Abhandlung unzähliger verschiedener Arten von Tieren, Pflanzen, Mineralien usw. mit der Medizin im engeren Sinne erweisen sich als sehr gering. Es handelt sich um ein völlig eigenständiges naturgeschichtliches Werk, und man wollte mit dem Übertitel »Onomatologia medica« wohl nur den verlegerischen Erfolg der beiden medizinischen Bände nutzen. In den folgenden Bänden verzichtete man denn auch auf ihn. Dieses Werk wurde hier nicht reproduziert.
Die Gründe, welche die Verfasser der beiden medizinischen Bände dazu bewegten, die Anonymität zu bewahren, kennen wir nicht. Über ihre Identität lassen sich allenfalls Vermutungen anstellen. Daß es ihnen gelang, den berühmten Albrecht von Haller für ein Vorwort zu gewinnen, könnte darauf hinweisen, daß sie aus dem Umkreis der damals sehr angesehenen Göttinger Medizin stammten. Auffällig ist zudem, daß sie Anatomie und Chirurgie gleichberechtigt in einem zweiten Band neben innere Medizin und Arzneimittellehre stellten. Das war in einer Zeit, da man erst begann, die traditionell stärker »handwerklich« ausgerichtete Chirurgie in die Universitätsmedizin zu integrieren, zumindest bemerkenswert. Zudem bemühten sich die Autoren mit Nachdruck, Kritikern die Bedeutung anatomischen und chirurgischen Wissens auch und gerade für die Diagnose und Behandlung innerer Krankheiten vor Augen zu führen: »Wie viele beträchtliche, und gefährliche, innerliche Krankheiten gibt es nicht«, so ihre Vorrede zum zweiten Band, »davon wir nicht nur ohne die Erfahrungen der Wundärzte nicht den geringsten deutlichen Begriff hätten, sondern darin wir uns auch ohne dieselben in Ansehung der Heilung im geringsten nicht zu helfen wüßten!« Als anschauliches Beispiel führen sie etwa die inneren Entzündungsherde als Ursache hitziger Fieber an.5 All dies läßt vermuten, daß gebildete Wundärzte und/oder chirurgisch interessierte akademische Ärzte unter den Verfassern eine wichtige Rolle spielten. Womöglich war sogar die nach wie vor von vielen akademischen Ärzten als minderwertig erachtete berufliche Identität des Chirurgen der Grund, die Anonymität zu suchen, doch all das muß letztlich Spekulation bleiben.
In der Konzeption ihres Werks zielten die Verfasser nicht auf wissenschaftliche Originalität. Sie wollten vielmehr, ganz im Sinne von Woyt,6 auf wissenschaftlichem Niveau, aber doch allgemein verständlich, die wichtigsten medizinischen Grundbegriffe und ihre deutschen Entsprechungen erläutern. Zielgruppe waren nicht nur die Ärzte, denen man ein nützliches Nachschlagewerk zur Hand gab, sondern den Apothekern, den Wundärzten und nicht zuletzt auch den Studenten suchte man »die ersten Begriffe ihrer Kunst zu erleichtern«.7 Viele Begriffe vor allem alchemistischer und arabischer Herkunft ließ man bewußt weg, denn »es bestehet doch die Gelehrsamkeit nicht in der Vielheit der Wörter, und in der Arzneywissenschaft hat man gewiß genug zu thun, bis man nur die Begriffe von allen nöthigen genug entwickelt, und fest in das Gehirn faßt«.8 Auch eine etymologische Herleitung, wie sie die älteren, lateinischsprachigen Lexika der Medizin in der Regel unternahmen, schien den Verfassern für den angesprochenen Leserkreis nicht angemessen. Man wollte die Wundärzte und anderes Heilpersonal schon allein deshalb damit verschonen, weil diese mit den klassischen Ursprungssprachen oft gar nicht hinreichend vertraut seien. Statt dessen stellte man eine für die damalige praktische, vor allem pharmazeutische Arbeit ebenso wie für den heutigen Historiker sehr nützliche, an die 30 Seiten umfassende Liste der Kürzel und Symbole an den Anfang, welche in Medizin, (Al-)Chemie und Arzneimittellehre die verschiedenen Stoffe, wie Salze, Metalle usw. bezeichneten.9 Im übrigen war man sich bei aller Beschränkung durchaus dessen bewußt, daß »die Aerzte eine unbeschreibliche Menge von Kunstwörtern unter sich haben, und man wohl keine Wissenschaft findet, die so reich an denselben ist«. (10) Ein Stück moderne Begriffsreflexion spiegelt sich zudem in der Erkenntnis, daß es für ein medizinisches Wörterbuch nicht ausreiche, bloße landessprachliche Entsprechungen für die einzelnen »Kunstwörter« anzugeben. Es gelte vielmehr, jeweils den ganzen Begriff des neuen Wortes zu vermitteln, also auch inhaltlich auszufüllen. Dementsprechend findet sich ein deutschsprachiges Register für den, der nicht die bloße deutsche Übersetzung eines lateinischen oder griechischen Fachbegriffs suchte, sondern einen deutschen Begriff genauer erklärt bekommen wollte.
1 R. James: A medicinal dictionary; including physic, surgery, anatomy, chymistry and botany in all their branches relative to medicine. 3 Bde. London 1743-1745; ders.: Dictionnaire universe1 de médecine. Hrg. v. J. Busson. 6 Bde. Paris 1746-1748. Die englische wie die französische Fassung wurden im Rahmen des Archivs für europäische Lexikographie in Microfiche-Reproduktion zugänglich gemacht.
2 J. J. Woyt: Gazophylacium medico-physicum oder Schatz-Kammer/ Medicinisch- und Natürlicher Dinge. Leipzig 1709; die Herausgeber erwähnen Woyt in ihrer Vorrede (Bd. 1) ausdrücklich, betonen aber, sie wollten sich stärker auf die medizinischen Grundbegriffe konzentrieren.
3 Als mutmaßlich letzte Auflage muß die bei W. Engelmann: Bibliotheca medico-chirurgica et anatomico-physiologica. Leipzig 1848, S. 645 erwähnte 17. Auflage des »Gazephylaciums« von 1783 gelten. Von der »Onomatologia« besorgte 1772 Johann Peter Eberhard eine neue Auflage (Nürnberg). Hinsichtlich möglicher weiterer Auflagen herrscht Unklarheit. Bibliographisch läßt sich u.a. bei Engelmann ( S . 413) eine Onomatologia medico-chirurgica für Frankfurt und Leipzig 1775 nachweisen, die mutmaßlich mitdem zweiten Band zu Anatomie und Chirurgie identisch war oder auf ihm aufbaute. Ob auch die vierbändige von »einer Gesellschaft von Ärzten« herausgegebene »Onomatologia medico-practica, oder enzyclopädisches Handbuch für ausübende Ärzte« (Nürnberg 1783-1786, nach Engelmann, S. 413) mit unserem Werk in Verbindung steht, ließ sich nicht nachprüfen.
4 Der vollständige Titel des ersten Bandes lautete: Onomatologia medica completa seu onomatologia historiae naturalis oder vollständiges Lexicon das alle Benennungen der Kunstwörter der Naturgeschichte nach ihrem ganzen Umfang erkläret und den reichen Schatz der ganzen Natur durch deutliche und richtige Beschreibungen des nützlichen und sonderbaren von allen Thieren, Pflanzen und Mineralien sowohl vor Aerzte als andere Liebhaber in sich fasst zu allgemeinem Gebrauch von einer Gesellschaft naturforschender Aerzte nach den richtigsten Urkunden zusammengetragen. Frankfurt und Leipzig 1758.
5 Onomatologia medica completa, Bd. 2, Vorrede der Verfasser.
6Zum Konzept Woyts vgl. M. Stolberg: Johann Jakob Woyts medizinisch-naturkundliche Schatzkammer für Gelehrte und Laien. Einführung zur Microfiche-Reproduktion des »GazophyIaciums« im Archiv für europäische Lexikographie.
7 So Albrecht von Haller in seiner Vorrede zu Band 1; vgl. die Vorrede der Verfasser zu Band 2.
8 Vorrede der Verfasser zu Bd. 1.
9 In der Ausgabe von 1772 als Anhang unter dem Titel »Medicinisch-Chymischund Alchemistisches Oraculum darinnen man alle Zeichen und Abkürzungen, welche so wohl in den Recepten und Büchern der Aerzte und Apothecker als auch in den Schriften der Chemisten und Alchemisten vorkommen findet«.
10 Vorwort der Verfasser zu Band 2.