Das »Dictionnaire universel de médecine« des Robert James

Michael Stolberg

Unter seinen Zeitgenossen war Robert James zunächst vor allem als der überaus erfolgreiche Erfinder eines Geheimmittels bekannt, dem eine hochspezifische Wirkung insbesondere in Fieberkrankheiten zugeschrieben wurde. Seine Zusammensetzung wurde nie enthüllt, doch fand es in England und Frankreich große Verbreitung und machte James und seine Nachkommen reich. Selbst George III. und George Washington wurden damit behandelt.1

James war jedoch weit davon entfernt, jene Art von »Scharlatan« zu sein, den man damit auf den ersten Blick vielleicht in ihm vermuten könnte. 1703 in Kinverston geboren, studierte er von 1722 an in Oxford und erwarb dort zunächst 1726 das Linzentiat. Später erhielt er in Cambridge auch den Doktortitel. Er praktizierte in verschiedenen englischen Städten und schließlich in London und starb 1776.2 Er hat eine ganze Reihe wissenschaftlicher Schriften hinterlassen, die teilweise mehrfach aufgelegt wurden. Sie sind insbesondere der Fieberlehre und der Tollwut und ihrer Behandlung gewidmet. Eine Arbeit zur Behandlung der Hundstollwut mit Quecksilber wurde bereits 1736 in den Philosophical Transactions veröffentlicht.3 Darüber hinaus war er als Übersetzer tätig und übertrug Werke von Prosper Alpini, Simon Paulli und die berühmte Studie von Bernardino Ramazzini über die Krankheiten der Handwerker aus dem Lateinischen ins Englische.4 In seiner theoretischen Orientierung zeigte James eine besondere Wertschätzung für die hippokratische Medizin, die über die Jahrhunderte immer wieder als Leitbild für eine erfahrungsorientierte Medizin galt. Auch die eben erwähnte, von James übersetzte Arbeit Alpinis war der hippokratischen Medizin, genauer, der Prognosenlehre gewidmet. Daneben spielen die Iatromechaniker eine wichtige Rolle. Sein zweibändiges medizinisches Handbuch von 1746 bezieht sich im Titel ausdrücklich auf Boerhaave und Hoffmann. Auf dem Gebiet der Chemie finden vor allem die paracelsistischen Schriften häufige Erwähnung.5

Das schon in der zeitgenössischen medizinischen Welt mit Abstand am meisten beachtete Werk von James war freilich das medizinische Lexikon, das er in drei engbedruckten, großformatigen Bänden von 1743 bis 1745 unter dem Titel »A medicinal dictionary; including physic, surgery, anatomy, chymistry and botany in all their branches relative to medicine« veröffentlichte. Im historischen Rückblick handelt es sich um eines der bedeutendsten Werke in der Geschichte des medizinischen Lexikons. Das Urteil der Biographie médicale, das Werk übersteige das, was man den Kräften eines einzelnen Menschen zutrauen könne und belege seine unermeßliche Gelehrsamkeit, mag zunächst als überschwenglich erscheinen, doch die Lektüre des Werks bestätigt es im wesentlichen tatsächlich. In der Tradition der »gelehrten Medizin« führt es unter einer großen Zahl von Schlagworten zusammen, was die berühmtesten Autoren der abendländischen Medizingeschichte zu dem betreffenden Gegenstand geschrieben hatten, ohne daß dies jedoch zu einer bloßen Aufzählung führen würde. Zentrale Begriffe sind oft über viele von Seiten abgehandelt, mitunter werden dann auch ganze Passagen aus älteren Werken im Wortlaut wiedergegeben. Andere Begriffe werden dagegen ihrer beschränkteren Bedeutung gemäß nur über wenige Zeilen erklärt, das gilt insbesondere für die große Zahl von Pflanzen und anderen Arzneimitteln, die in das Lexikon Aufnahme fanden. Ungeachtet seines »gelehrten« Charakters räumt das Werk zudem auch praktischen Aspekten breiten Raum ein. Wiederholt werden Krankengeschichten eingeflochten, und eingehend beschreibt James die Handgriffe etwa bei einzelnen chirurgischen Operationen oder bei der Herstellung bestimmter Arzneimittel. Eine Reihe von Tafeln - wenn auch überwiegend, wenn nicht ausschließlich aus anderen Werken übernommen - dienen der weiteren Veranschaulichung.

Die hohe Qualität des Werks war sicherlich der Grund dafür, daß nahezu ummittelbar nach dem Erscheinen des Werks eine französische Ausgabe in Angriff genommen wurde. Es gab in Frankreich, wie in den übrigen europäischen Staaten nichts, das auch nur annähernd vergleichbar gewesen wäre.6 M. A. Eidous, F. V. Toussaint und Didérot - offenbar tatsächlich der berühmte Autor der Encyclopedie, Denis Didérot - wurden wegen ihrer guten englischen Sprachkenntnisse mit der Übersetzung betraut. Der bretonische Arzt Julien Busson, Lehrer an der medizinischen Fakultät in Paris, übernahm die Bearbeitung und Herausgabe7 des Werks? Zu Begriffen, die James nicht berücksichtigt hatte, fügte er eigene Beiträge ein, ergänzte bestehende und kürzte wieder andere, in denen sich ihm allzu viel Gelehrsamkeit breit zu machen schien. Nach der verkaufsfördernden Darstellung von Busson sollte das Werk in Fällen, wo ärztliche Hilfe nicht verfügbar war, ja auch Laien eine Hilfestellung zur Selbstbehandlung bieten.8 Erst mit dem berühmten 60bändigen Dictionaire de médecine (1812-1822 als Vertreter eines neuen Typus des großen medizinischen Lexikons mit hochaktuellen Beiträgen vieler verschiedener Autoren zu Themen aus ihren jeweiligen Spezialgebieten wurde das Werk von James in den Hintergrund gedrängt.9 Doch empfahl A. J. L. Jourdan James Werk in seiner Biographie médicale noch in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts als fruchtbare, wenn auch nun eines gewissen kritischen Bewußtseins bedürftige Lektüre.

Der Wunsch nach unmittelbarer, praxisrelevanter Information wird heute die Lektüre von James Werk kaum mehr motivieren können. Der hohe heutige Wert dieses Lexikons für den historisch interessierten Leser bedarf dagegen keiner weiteren Erläuterung. Es erlaubt unter einer Fülle von Fragestellungen eine rasche und dennoch sehr fundierte Orientierung über die Theorie und Praxis der Medizin zur Mitte des 18. Jahrhunderts in all ihren Teilaspekten. Und es bietet obendrein, in einer nahezu hundert Seiten langen historischen Einführung, vor allem aber in der Abhandlung der wichtigeren Begriffe, einen guten Überblick über die Werke und Auffassungen der Autoren früherer Jahrhunderte über die behandelten Themen und Gegenstände.

1 Charles W. Burr: Dr. James and his medical dictionary. In: Annals of medical history. Neue Serie 1 (1929), S. 180-190; Biographie medicale. Hrg. v. A. J. L. Jourdan. 7 Bde. Paris 1820-1825.

2 Zur Biographie vgl. Biographie médicale [wie Anm. 1]; Dictionnaire historique de la médecine ancienne et moderne. Hrg. v. J. E. Dezeimeris, Ch. P. Ollivier P. und J. Raige-Delorme. Paris 1828-1839; die Angaben bei Burr [wie Anm. 1] weichen von den in diesen beiden Werken gegebenen ohne Quellenbeleg zum Teil deutlich ab: das Geburtsjahr wird mit 1705 angegeben und der Erwerb des Doktortitels auf 1728 statt auf 1755 datiert; letzteres ist freilich auch die Angabe im Biographischen Lexikon der hervorragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. Hrg. v. A. Hirsch. 3. Aufl. Durchgesehen und ergänzt von W. Haberling u.a. München - Berlin 1962, Bd. 3, S. 414.

3 A dissertation on fevers and inflammatory distempers [...] London 1748; A new method of preventing and curing the madness caused by the bite of a mad dog. 2. Aufl. London 1743 (die erste Auflage erschien dem Dictionnaire historique zufolge [wie Anm. 21 1735; 1760 erschien in Überarbeitung A treatise on canine madness); weitere, nicht selbst gesehene Arbeiten nach dem Dictionnaire historique: A treatise on tobacco, tea, coffee, and chocolate. London 1745; Modern practice of physic, improved by Boerhaave and Hoffmann. 2 Bde. London 1746; English dispensatory. London 1747. Dazu kamen posthum: A dissertation upon fevers, and a vindication of the fever powder. 1778; A short treatise of the disorders of children 1780. Den Beitrag von 1736 erwähnt ebenfalls das Dictionnaire historique.

4 Prosper Alpini: The presages of life and death in diseases. In seven books. In which the whole Hippocratic method of predicting the various terminations and events of diseaes is in a new and accurate manner illustrated and confirm'd, not only by the sentiments and opinions of the ancient physicians, but also by a long course of attentive observation and experience. London 1746; Simon Paulli: A treatise on tobacco, tea, coffee, and chocolate. London 1746. (Übers. d. Commentarius de abusu tabaci Americanorum veteri, et herbae thee Asiaticorum in Europa novo. Argentorati 1665). Beide Werke werden im Dictionnaire historique [wie Anm. 2] fälschlich James zugeschrieben. Der Hinweis auf James als früheren Übersetzer der Arbeit Ramazzinis findet sich in der Biographie médicale von Jourdan [wie Anm. 1] und im Katalog der Library of Congress in Washington D.C. im Zusammenhang mit einer späteren, offenbar auf James zurückgehenden englischsprachigen Ausgabe von 1933; die Biographie médicale erwähnt des weiteren noch die Übersetzung einer Epidemienschrift von Hoffmann.

5 Vgl. auch Burr [wie Anm. 1].

6 Jeweils dreibändige Ausgaben lassen sich auch in italienischen Bibliothekskatalogen unter dem Titel Dizionario pratico-medico e cerusico portatile für Neapel 1772-1777 und Venedig 1794 nachweisen.

7 Zur Biographie Bussons vgl. N. F. J. Eloy: Dictionnaire historique de la médecine ancienne et moderne. Bd. 1. Mons 1778, S. 489; Dictionnaire de biographie française. Hrg. v. M. Prevost und Roman d Amat. Bd. 7. Paris 1856, S. 719.

8 Dictionnaire universel, »Avertissement de l'éditeur«.

9 Dictionaire des sciences médicales. Hrg. v. Adelon, Alard u.v.a. 60 Bde. Paris 1812-1822; dieses Werk wurde im Rahmen des Archivs für europäische Lexikographie ebenfalls in einer Microfiche-Reproduktion zugänglich gemacht.