Georg Friedrich Most und seine »Ausführliche Encyklopädie der gesammten Staatsarzneikunde«
Michael Stolberg
»Wenn wir uns rühmen dürfen, in irgend einem Zweige des ärztlichen Wissens und Wirkens den übrigen gebildeten Völkern vorausgeeilt zu sein, so ist es gewiss im Gebiete der gerichtlichen Medicin und der medicinischen Policei.« Mit diesen Worten wies Georg Friedrich Most im Vorwort der vorliegenden »Encyklopädie« den zeitgenössischen Leser – nicht zuletzt angesichts des weithin anerkannten Primats von Paris und Wien im Bereich der klinischen Medizin – auf die besondere Stellung der deutschen »Staatsarzneikunde« in der damaligen europäischen Medizin hin.
Zu dem Zeitpunkt, als Most dies formulierte, konnte von einem deutschen Vorrang hinsichtlich der konkreten Forschungsresultate und ihrer praktischen Anwendung zwar schon längst nicht mehr die Rede sein. Vor allem Frankreich mit seinen berühmten Chemikern und Toxikologen und seiner expandierenden Hygienewissenschaft hatte den deutschen Ärzten den Rang abgelaufen. Doch in der Tat gab es eine jahrhundertealte, besonders im deutschen Sprachraum angesiedelte Tradition wissenschaftlicher Arbeit auf diesem Gebiet, die eine lange Reihe europaweit einflußreicher ärztlicher Schriften deutscher oder deutschsprachiger Autoren hervorgebracht hatte, von Autoren, die zunächst etwa mit Hippolytus Guarinonius und Ludwig von Hörnigk programmatisch ein verstärktes Eingreifen obrigkeitlicher Macht in die gesundheitsrelevanten Belange von Wirtschaft und Gesellschaft forderten1 und später den Aufbau einer systematischen Wissenschaft von der öffentlichen Gesundheitspflege vorantrieben. Ende des 18. Jahrhunderts wurde Johann Peter Franks »System einer vollständigen medicinischen Polizey« für Jahrzehnte zum zentralen, für ganz Europa als maßgeblich anerkannten Bezugspunkt dieser neuen Wissenschaft.2 Auch die publizistischen Aktivitäten anderer Autoren zu diesem Gegenstand konzentrierten sich noch um 1800 vor allem auf den deutschsprachigen Raum. Eine ganze Reihe von – teilweise recht kurzlebigen – deutschsprachigen Periodika erschien auf dem Markt, etwa Johann Theodor Pyls »Repertorium für die öffentliche und gerichtliche Arzneywissenschaft«, Christoph Knapes »Kritische Annalen der Staatsarzneikunde für das neunzehnte Jahrhundert« oder das von Konrad Friedrich Uden herausgegebene »Magazin für die gerichtliche Arzneikunde und medicinische Polizei«.
Ohnehin geradezu ein deutsches Spezifikum war jene eigentümliche Verbindung von Gerichtsmedizin und öffentlicher Gesundheitspflege unter dem Dach einer sogenannten »Staatsarzmeikunde«. Die Motive für die Zusammenführung dieser beiden doch recht verschiedenen Gegenstandsbereiche sind vor allem in der beruflichen Situation der Ärzte zu suchen, wie sie insbesondere für Deutschland damals charakteristisch war. Die Anstellung im öffentlichen und insbesondere im staatlichen Dienst wurde hier nämlich zunehmend von vielen Ärzten als eine recht attraktive Karrieremöglichkeit erlebt. Das Königreich Bayern schuf beispielsweise nach 1800 Hunderte von gut bezahlten Stellen für beamtete »Gerichtsärzte«, deren Aufgabenspektrum eben die beiden genannten Bereiche umfaßte, also die ärztliche Begutachtung vor Gericht, insbesondere in Kriminalfällen, und die Organisation der öffentlichen Gesundheitspflege einschließlich der Aufsicht über das übrige Heilpersonal in ihrem jeweiligen Bezirk. Wer eine solche Stelle erlangen wollte, mußte freilich in einer besonderen Staatsprüfung seine Kenntnisse in der Staatsarzneikunde unter Beweis stellen und benötigte in der Ausübung seiner Pflichten erhebliche Spezialkenntnisse. In der zeitgenössischen medizinischen Publizistik finden sich denn auch zahlreiche Klagen über die eklatanten Wissensdefizite, die Arzte als Gerichtsgutachter immer wieder an den Tag legten und damit zugleich das Ansehen des ärztlichen Standes insgesamt gefährdeten.
In anderen Gegenden Deutschlands gab es damals eine ähnliche, wenn auch teilweise weniger stark ausgeprägte Verschmelzung der beiden Disziplinen in der Position des öffentlich angestellten Arztes, der zugleich die unterste Ebene eines flächendeckenden staatlichen Gesundheitswesens bildete.
Die wesentlichen Inhalte dieser rasch expandierenden neuen (Doppel-) Disziplin also führte Georg Friedrich Most mit der Unterstützung von anderen Ärzten, aber auch Chemikern und Juristen in seiner »Ausführlichen Encyklopädie der gesammten Staatsarzneikunde« auf ein – gerade noch – handliches Format zusammen. Er wollte damit keinen originären wissenschaftlichen Beitrag leisten. Sein Ziel war vielmehr ein Handwörterbuch, das »kurz, bündig, deutlich und klar« alle jene wissenswürdigen Gegenstände enthielte, die die Ärzte, aber auch die mit medizinischen Dingen befaßte der Juristen oder Politiker in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben brauchten.3
Most selbst, 1794 geboren und als Universitätslehrer in Rostock tätig, war nur begrenzt mit eigenen staatarzneikundlichen Veröffentlichungen hervorgetreten und galt sicher nicht als führender Vertreter dieser Disziplin. Die Medizingeschichtsschreibung kennt ihn heute eher aufgrund seines für zeitgenössische Verhältnisse ungewöhnlich vorbehaltlosen Interesses für die »Volksmedizin«, deren Verfahren er – unter Einschluß sympathetischer, magischer Verfahren – teilweise persönlich erprobte und für wirksam befand.4
Doch Most hatte auf dem Gebiet der Staatarzneikunde den nötigen Überblick und zugleich - womöglich mehr als mancher Spezialist - ein echtes Interesse an der Vermittlung des wirklich praktisch Nützlichen oder Notwendigen unter Verzicht auf allzu detaillierte Spezialfragen. Er verfügte im übrigen durchaus über ausgedehnte theoretische und praktische Kenntnisse und bezog systematisch auch die internationale Literatur mit ein. Und er hatte zudem das nötige schriftstellerische und redaktionelle Geschick bei der Strukturierung des Werks und der Koordinierung der Beiträge aus heterogenen und, wie gesagt, zum Teil sogar außerhalb der Medizin angesiedelten Wissensbereichen. Erfahrungen mit der Redaktion medizinischer Lexika hatte er schon als Herausgeber einer »Encyklopädie der gesammten medizinischen und chirurgischen Praxis« (Leipzig 1833–1834) gesammelt.
Es war eine sehr beachtliche Leistung. Most selbst gab an, eigenhändig rund 1.200 Bände der neueren und neuesten Literatur herangezogen zu haben, und immerhin hatte schon mehr als ein Jahrhundert zuvor der oben erwähnte K. F. Uden ein derartiges Handbuch für notwendig erachtet und sich an seine Abfassung gemacht, dann aber seinen Plan wegen der großen Schwierigkeiten wieder aufgeben müssen.5 Und in eben jenen Jahren, in denen Most sein Werk fertigstellte, mußte Karl Wenzel sein vergleichbares Bemühen um ein Handlexikon der »staatsärztlichen Praxis« unvollendet abbrechen.6
So bietet Mosts »Encyklopädie« erstmals einen gründlichen und umfassenden Überblick über die verschiedenartigen Gegenstände dieser »Staatsarzneikunde«, in denen insbesondere der öffentlich angestellte Arzt bewandert sein mußte. Der Ansatz war damit noch erheblich breiter als der des wichtigsten konkurrierenden Werks, des fast gleichzeitig erschienenen »Enzyklopädischen Handbuchs der gerichtlichen Arzneikunde für Aerzte und Rechtsgelehrte«7 von Friedrich Julius Siebenhaar. Die Vorzüge, die Mosts Werk dem zeitgenössischen Arzt, dem gerichtsmedizinisch interessierten Juristen oder dem Beamten in der Medizinalverwaltung empfehlenswert machten, gelten denn auch in ganz ähnlicher Weise noch für den heutigen, historisch interessierten Benutzer, zumal in einer Zeit, da ethische und rechtliche Fragen in der Medizin zunehmend an Gewicht gewinnen und zugleich unter dem Stichwort »public health« die politische Relevanz der Medizin wieder verstärkt ins Bewußtsein rückt. In zahlreichen Einträgen zu Mosts Werk findet sich gebündelte Information zu den betreffenden Gegenständen, die andernfalls nur in mühsamen Nachforschungen aus der verstreuten zeitgenössischen Literatur zusammengeführt werden könnte. Literaturangaben erschließen den Zugang für weitere Recherchen. Besonders dort, wo sich der Text in jenem auch heute noch von vielen Forschern als besonders diffizil empfundenen und oftmals gesellschaftlich und politisch besonders relevanten Grenzbereich zwischen Medizin und Jurisprudenz bewegt, ist die »Encyklopädie« noch immer eine ausgesprochen attraktive Orientierungshilfe. Nur bei einzelnen Themen, etwa bei Schlagworten wie »Homöopathie«der »Wasserheilkunde«, tritt an die Stelle sachlicher Informationsaufbereitung die polemische Auseinandersetzung mit aktuellen Tagesfragen.
1 Hippolytus Guarinonius: Die Grewel der Verwüstung menschlichen Geschlechts. Ingolstadt 1610; Ludwig von Hörnigk: Politia medica oder Beschreibung dessen was die Medici, so wohl insgemein als auch verordnete Hof- Statt- Feldt- Hospital vnd
Pest-Medici, Apothecker/Materialisten / Wundärtzte/ Barbierer/ Feldscherer / Oculisten / Bruch- vnd Steinschneider [...] tun vnd beachten sollen. Frankfurt 1638.
2 9 Bde. Frankenthal 1791-1793.
3 Vorrede Mosts, Bd. 1 (1838).
4 G. F. Most: Die sympathetischen Mittel und Curmethoden. Rostock 1842; ders.: Encyclopädie der Gesamten Volksmedicin. Leipzig 1843. Zu den wichtigsten Veröffentlichungen Mosts vgl. Adoph C. P. Callisen: Medicinisches Schriftsteller-Lexicon. Bd. 30. Kopenhagen 1842, S. 454f und August Hirsch (Hrg.): Biographisches Lexikon der hervorragenden Arzte aller Zeiten und Völker. 3. Aufl. Bd. 4. München - Berlin 1942, S. 275. Mosts Todesjahr ist nicht überliefert. Die Angabe bei Hirsch, Most sei bereits 1832 an der Cholera gestorben, ist schon angesichts der zahlreichen später veröffentlichten Werke unglaubwürdig, und im übrigen schilderte Most im Rückblick selbst seine Choleraerkrankung .
5 Magazin für die gerichtliche Arzneikunde und medicinische Polizei 1 ( 1782), Vorrede des Herausgebers, S. 14.
6 Karl Wenzel: Handlexicon oder Encyclopädie der gesammten staatsärztlichen Praxis, die gerichtliche Medicin, medicinische Gesetzgebung, Civil- und Militair-Medicinal-Polizei und die staatsärztliche Veterinärkunde umfassend. Bd. 1, in 2 Teilen (A - Fl). Erlangen 1837/38.
7 Leipzig 1838-184.