Das »Dictionarium medicum« des Henri Estienne
Michael Stolberg
»This valuable Greek-Latin dictionary for the ancient medical writers defined and fixed a large number of anatomical terms, and exercised considerable influence on modern anatomical terminology. It was thus an important aid to the full understanding of the ancient text.« Mit diesen Worten charakterisiert die medizin-historiographische Standardbibliographie von Fielding Hudson Garrison und Leslie T. Morton die besondere Bedeutung des »Dictionarium medicum vel expositiones vocum medicinalium« des Henri Estienne (Henricus Stephanus) aus dem Jahr 1564.1
Es ist sicherlich ein wenig gewagt, den Einfluß eines einzelnen Wörterbuchs auf die Entwicklung einer Fachsprache einigermaßen zuverlässig abschätzen zu wollen. Zweifellos aber ist das Werk von Estienne eines der frühesten und besonders gelungenen Beispiele der damals eben erst im Entstehen begriffenen Literaturgattung des medizinischen Wörterbuchs. Einen wichtigen Anfang hatte 1534 Otto Brunfels gemacht, der für sein »Onomastikon medicinae« ausgiebig auf die Werke der antiken Autoren zurückgriff. Im gleichen Jahr wie das »Dictionarium medicum« erschienen die »Definitionum medicarum libri XXIIII« des Jean de Gorris (1564). Anuce Foes brachte 1588 nach rund 40jähriger Arbeit seine »Oeconomia Hippocratis alphabeti Serie distincta« heraus. Mit dem »Lexicon medicum graeco-latinum« des Bartolommeo Castelli erschien 1598 eines der erfolgreichsten medizinischen Lexika aller Zeiten, das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts immer wieder von anderen Autoren überarbeitet und neu herausgegeben wurde.2
All diese Werke spiegeln die zentrale Bedeutung, welche die geistige Bewegung des Humanismus im Bereich der Medizin gewonnen hatte. Die Medizin, die bisher, so wie sie an den Universitäten gelehrt wurde, ohnehin schon vor allem eine theoretische, philosophische Disziplin war, deren führende Vertreter sich in erster Linie durch ihre gute Kenntnis der gelehrten Überlieferung und durch ihre besonderen Fähigkeiten im Umgang mit den überkommenen Texten auszeichneten, wurde nun zusätzlich und entscheidend geprägt durch das Ideal des philologischen Purismus.
Gerade bei der Abfassung eines Wörterbuchs konnte sich das philologische Bemühen um eine Rückkehr zu den unverfälschten antiken Quellen unmittelbar mit dem Streben nach Klarheit, ja Eindeutigkeit der Begriffe verbinden, schien doch der Rückgriff auf die alten Texte eine solche Eindeutigkeit in autoritativer Weise zu gewährleisten. Freilich galt es zu diesem Zweck in mühevoller Kleinarbeit die klassischen Texte der Autoritäten systematisch zu durchforsten.
Im »Dictionarium medicum« des Henri Estienne wurde das Bemühen um den klaren Begriff mit dem Streben nach der Wiederherstellung der ursprünglichen Quellen besonders eng in einem einzigen Band verbunden. Zum einen schöpfte Estienne das Material für sein Wörterbuch aus den Texten der antiken Ärzte, wobei er nicht nur auf die Schriften von Hippokrates und Galen als den maßgeblichen antiken Autoritäten zurückgriff, sondern auch auf die Werke späterer Autoren und medizinischer Enzyklopädisten wie Celsus, Paulus von Aegina und Oribasius. Dem zeitgenössischen, im Bereich von Medizin und Naturwissenschaft insbesondere durch die Übersetzungen arabischer Werke mitgeprägten Begriffsgebrauch billigte er dagegen keine eigenständige Bedeutung zu. Entscheidend war die Art und Weise, wie die Autoritäten die Wörter verwandten.
Gleichzeitig aber nutzte Estienne die Gelegenheit, um zusammen mit seinen eigenen Ergebnissen die griechisch-sprachigen medizinischen Glossare zweier Autoren des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts zu edieren und zu kommentieren. Dabei handelte es sich zum einen um die Sammlung und Auslegung von Ausdrücken in den hippokratischen Schriften, die der Grammatiker Erotianus zusammengestellt hatte und die in der Ausgabe Estiennes erstmals im Druck erschienen, und zum anderen um die Neuedition eines Glossars, das Galen angefertigt hatte.3
Henri Estienne war auch in seinem ganzen sonstigen Schaffen ein typischer, ja herausragender Vertreter der humanistischen Bewegung. 1528 als Sohn des bekannten Buchdruckers und Verlegers Robert Estienne in Paris geboren, erhielt er frühzeitig eine vorzügliche Ausbildung insbesondere in den alten Sprachen. Den größten Teil seines Arbeitslebens verbrachte er dann mit der Suche, Kollationierung und Herausgabe zahlreicher Werke vor allem der griechischen und römischen Antike, ergänzt durch eine Reihe von eigenen Schriften. Das Spektrum der von ihm herausgegebenen und übersetzten oder kommentierten Autoren umfaßt Aristoteles, Diogenes Laertius, Herodot, Plutarch, Thukydides und Xenophon, Homer, Cicero, Virgil und viele andere. Ein Biograph zählte insgesamt 170 Editionen in verschiedenen Sprachen, für die Estienne verantwortlich zeichnete, darunter etliche Werkausgaben.
Unter seinen eigenen Werken waren auch mehrere, teilweise bis heute in überarbeiteten Fassungen verwendete allgemeine Wörterbücher und Thesauren der lateinischen und griechischen Sprache sowie sprachdidaktische Schriften.4
Anders als fast alle Verfasser medizinischer Lexika nach ihm war Estienne also kein Arzt. Die Medizin war nur ein Wissensbereich unter vielen anderen, auf dem er sich als Philologe und Herausgeber betätigte.5 Angesichts der im Vergleich zur empirischen Forschung überragenden Stellung von Theorie und Philosophie in der zeitgenössischen Medizin hatte die mangelnde praktische Erfahrung freilich nur geringe Bedeutung für die Befähigung zu jener klaren Begriffsbildung, durch welche sich das »Dictionarium medicum« auszeichnet. Sie ist es vor allem, die dieses Werk zu einem nützlichen Hilfsmittel macht, wenn es darum geht, den Bedeutungsgehalt zu rekonstruieren, den zeitgenössische Ärzte bei der Verwendung von Fachbegriffen jeweils zugrunde legten.
1 Vgl. Fielding Hudson Garrison und Leslie T. Morton: A medical bibliography: an annotated check list of texts illustrating the history of medicine. 3. Aufl. 1970, S. 902.
2 Die wichtigsten dieser Bearbeiter waren Emanuel Stupanus, Adrian Ravestein und Jakob Pankraz Bruno.
3 Zu Erotians Glossar vgl. Ludwig Choulant: Handbuch der Bücherkunde für die ältere Medicin. 2. Aufl. Leipzig 1841 (photomech. Nachdruck Graz 1956), S. 74f; später folgten weitere Drucke und Übersetzungen anderer Autoren.
4 Einen ausführlichen Überblick über Leben und Werk Estiennes bietet der ihm gewidmete Beitrag in der Nouvelle Biographie générale. Bd. 16. Hrsg. v. Dr. Hoefer. Paris 1856, Spalten 517-553.
5 Mit der Medizin befaßte sich Estienne auch noch in seinem «Medicae artis principes graeci» aus dem Jahr 1567.