James Coplands »Dictionary of practical medicine«
Michael Stolberg
James Coplands »Dictionary of practical medicine« Michael Stolberg Es war wahrscheinlich das bekannteste und erfolgreichste englischsprachige Lexikon seiner Zeit, das »Dictionary of practical medicine: comprising general pathology, the nature and treatment of diseases, morbid structures, and the disorders especially incidental to climates, to the sex, and to the different epochs of life« des Londoner Arztes James Copland. Man hat es in Anspruch und Belesenheit mit dem mittelalterlichen »Liber continens«, dem großen enzyklopädischen Handbuch der Medizin des arabischen Arztes Rhazes, verglichen.1
Die »London Lancet« verwies stolz auf eine geplante Übersetzung selbst ins Französische, in die Sprache jenes Landes also, das mit seinem »Dictionaire des sciences médicales« das überragende Werk der zeitgenössischen Lexikographie hervorgebracht hatte. Die »Medico-chirurcical review« meinte, vor allem im Aufbau übertreffe es alles bisher Verfügbare und zögerte nicht, potentielle Käufer unter Anspielung auf ihren Geldbeutel für das »Dictionary« zu erwärmen: »Es ist mehr konzentrierte Information in diesem ersten Teil von Dr. Coplands Werk, das nur neun Shilling kostet, als in fünf Bänden im Oktavformat aus dem Jahr 1800 zum Preis von zwei oder drei Guineen.«2
Es war tatsächlich angesichts der zunehmenden Komplexität und Differenzierung des zeitgenössischen medizinischen Wissens ein ungemein ehrgeiziges Unterfangen, das Copland sich vorgenommen hatte: eine Darstellung der wesentlichen Inhalte des gesamten medizinischen Wissens seiner Zeit aus der Feder eines einzigen Mannes.
Der Plan war bereits in den 1820er Jahren gereift; aus dem Jahr 1825 ist ein Verlagsentwurf fiir eine »Encyclopaedia of medicine« überliefert. Doch zunächst gelang es Copland damit nicht, einen Verleger für sein Vorhaben zu gewinnen und auch zwei weitere Vorstöße, 1828 und 1829, scheiterten, bis sich schließlich der Longman-Verlag des Projekts annahm.3
Das Ergebnis war das vorliegende Werk, das auf mehr als 3.500 engbedruckten Seiten eine umfangreiche Sammlung von Beiträgen zum gesamten Spektrum der praktischen Medizin bietet und damit in seinem Aufbau tatsächlich, dem ursprünglichen Titel gemäß, eher einer Enzyklopädie als einem Wörterbuch zur Klärung unbekannter oder schwieriger Begriffe entspricht. Copland ging es in diesem Werk nicht darum, die Originalität seines eigenen medizinischen Denkens unter Beweis zu stellen. Er wollte vielmehr den aktuellen und praxisrelevanten Wissensstand vermitteln. So bieten etwa die Beiträge zu den diversen Krankheiten in der Regel zunächst eine Begriffserklärung unter Einschluß der oft zahlreichen Synonyma in den verschiedenen europäischen Sprachen, gefolgt von einer übersichtlichen Darstellung der Krankheitsursachen, des Krankheitsbildes und gewöhnlichen Krankheitsverlaufs, der anatomischen und pathologischen Zusammenhänge und, dem Anspruch auf Praxisnähe folgend, oft besonders ausführlich des konkreten Vorgehens in Diagnose und Behandlung.
Coplands Qualifikation für dieses ehrgeizige Unternehmen ist sicher nicht so sehr in einer herausragenden wissenschaftlichen Befähigung zu suchen. Der Autor ist eher dem Typus des begabten Kompilatoren zuzurechnen, der sich frühzeitig – und teilweise wohl auch unter den ökonomischen Zwängen einer nur mäßig florierenden Praxis – der medizinischen Schriftstellerei zuwandte.
Copland wurde im November 1791 auf den Orkney Inseln geboren. Er studierte in Edinburgh zunächst Theologie und wandte sich dann der Medizin zu. 1815 wurde er zum M.D. promoviert. Da er in London nicht die erhoffte Anstellung fand, ging er zunächst als Arzt der African Company nach West-Afrika. 1818 kehrte er nach London zurück, nachdem er sich nach einem Schiffbruch unter abenteuerlichen Umständen die Küste entlang bis nach Cape Coast Castle durchgeschlagen hatte. 1820 wurde er Lizentiat des Londoner College of Physicians und begann sich angesichts fehlender Beziehungen und geringer Praxis mit literarischen Arbeiten sein Brot zu verdienen. Zunächst griff er auf seine afrikanischen Erfahrungen zurück und verfaßte unter anderem eine medizinische Topographie West-Afrikas. Dann wandte er sich zunehmend der klinischen Medizin zu, schrieb über Tollwut und Gelbfieber und beteiligte sich wie zahllose andere zeitgenössische Ärzte an der lebhaften Diskussion um die Natur und Ausbreitungsart der Cholera, die sich seit den 1820er Jahren von Hinterindien aus über die ganze Welt ausbreitete und 1832 auch England erreichte.4
Die Veröffentlichung des »Dictionary« fiel zeitlich dann in etwa zusammen mit dem Beginn wachsenden beruflichen Erfolgs und dürfte diesen dann weiter vorangetrieben haben. Copland wurde 1833 zum F.R.S. ernannt, 1837 wurde er Mitglied des College of Physicians und später auch der Präsident der Pathological Society.
Intensiv trieb er weiterhin seine publizistische Arbeit voran und soll schließlich mehr wissenschaftliche Beiträge verfaßt haben, als je ein Mitglied des College vor ihm.5 1869, nach rund 45 Jahren beruflicher Tätigkeit, zog er sich aus der Praxis zurück. Er starb in Kilburn am 12. Juli 1870.
Dem heutigen Historiker bietet das vorliegende Werk ein wertvolles Hilfsmittel für die Erforschung der Geschichte der Medizin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Anlage des Werkes erweist sich dabei in doppelter Hinsicht als sehr vorteilhaft. Zum einen läßt die Ausrichtung auf die Bedürfnisse des praktischen Arztes, dem das Werk als Begleiter in seinem beruflichen Alltag dienen wollte, das konkrete Vorgehen in der ärztlichen Praxis besonders unmittelbar und anschaulich werden. Zum anderen bemühte sich Copland in einer Zeit, in der die Medizin von dem Neben- und Gegeneinander ganz unterschiedlicher Konzepte und Theorien geprägt war, darum, die Vertreter dieser gegensätzlichen Auffassungen einigermaßen gleichberechtigt zu Wort kommen zu lassen. Sein Werk bietet damit ein breites Panorama der zeitgenössischen Medizin und der diversen Auffassungen und Deutungen des Krankheitsgeschehens. Indem Copland seine Ausführungen teilweise mit historischen Rückblicken und oft mit umfangreichen bibliographischen Angaben zur einschlägigen Literatur vor allem des 18. und frühen 19. Jahrhunderts versah, machte er sein »Dictionary« für den heutigen Benutzer zu einer wahren Fundgrube auch für seltenere und abgelegenere zeitgenössische Beiträge zu dem untersuchten Gegenstand.
1 Dictionary of national biography. Hrg. v. Leslie Stephen. BD. 12. London 1887, S. 171f.; den praktischen Nutzen beurteilte man freilich zu diesem Zeitpunkt, nach mehr als einem halben Jahrhundert seit dem Erscheinen, schon eher skeptisch.
2 Zitiert in der Verlagsankündigung für eine US-amerikanische Ausgabe bei Lilly, Wait & Co., Boston 1833 (Washington D.C., Library of Congress, AC 901.M5 266.4).
3 Dictionary of national biography, a.a.O.; der Beitrag zu Copland konnte teilweise noch auf Zeitzeugen zurückgreifen und liegt auch den folgenden biographischen Ausführungen zugrunde.
4 Of pestilential cholera: its nature, prevention and curative treatment. London 1832.
5 Unter seinen monographischen Arbeiten ist insbesondere seine Abhandlung über den Schlaganfall zu erwähnen, die auch in den Vereinigten Staaten erschien (Of the causes, nature and treatment of palsy and apoplexy: of the forms, seats, complications, and morbid relations of paralytic and apoplectic diseases. Philadelphia 1850).