Die »Encyclopédie méthodique. Médecine« von Vicq d’Azyr

Michael Stolberg

Es war ein überaus ehrgeiziges Unterfangen, das seinen erfolgsgewohnten Verleger C. F. L. Panckoucke an den Rand des finanziellen Ruins getrieben haben soll. Nachdem die große »Encyclopédie« von Diderot und D’Alembert den Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte der europäischen Lexikographie markiert und die geistigkulturelle Entwicklung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hatte, sollte zum ausgehenden 18. Jahrhundert auf der Grundlage dieses monumentalen Werks das gesamte theoretische, empirische und angewandte Wissen der Zeit in einer noch umfangreicheren »Encyclopédie méthodique« zusammengetragen werden. Die Fehler des älteren Werks sollten korrigiert, inhaltliche Lücken aufgefüllt und vergessene Schlagwörter ergänzt werden. Vor allem aber sollte das Unternehmen eine gänzlich neue Struktur erhalten. An Stelle einer umfassenden Darstellung des gesamten Wissens der Zeit, die zu einer oft zusammenhanglosen Aneinanderreihung von Beiträgen aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten führen mußte, sollte die neue »Encyclopédie méthodique« eine systematische Zusammenstellung einer ganze Reihe von Einzel-Enzyklopädien bilden, die jeweils einem abgegrenzten Bereich gewidmet waren.1 Unter den fast vierzig Gegenstandsbereichen, denen auf diese Weise jeweils eine eigene, meist mehrbändige Abteilung gewidmet wurde, waren Landwirtschaft, Gartenbau, Architektur, Manufaktur und Kriegskunst ebenso vertreten wie Reiten und Spiele, Grammatik, Logik, Altertumskunde und Geschichte, Botanik, Chemie, Naturgeschichte und nicht zuletzt auch die Medizin.

Mit Felix Vicq d’Azyr konnte für die Betreuung dieses medizinischen Teils der »Encyclopédie méthodique« eine der renommiertesten Wissenschaftlerpersönlichkeiten des zeitgenössischen Frankreich gewonnen werden.2 1748 in Valognes geboren, studierte er zunächst in Caen und dann bei Petit und Daubenton in Paris und machte schon während seiner Ausbildung mit seinen anatomischen Arbeiten von sich reden.

Bereits 1774, im Jahr seiner Promotion, wurde er zum »adjoint anatomiste« der Akademie der Wissenschaften gewählt. Er beschäftigte sich vor allem mit vergleichender Anatomie und Neuroanatomie, war aber auch an Fragen der medizinischen Reform und der öffentlichen Gesundheitspflege interessiert. 1778 wurde er auf Lebenszeit zum Sekretär der neuen Société royale de médecine ernannt, die 1776 unter maßgeblicher Beteiligung Vicq d’ Azyrs aus dem erfolgreichen Kampf gegen eine verheerende Viehseuche in Südfrankreich hervorgegangen war, sich aber bald, trotz eines gewissen Schwerpunkts im Bereich der medizinischen Umweltlehre, dem gesamten Spektrum medizinischer Themenbereiche zuwandte. 1784 folgte die Ernennung zum »associé anatomiste« der Akademie der Wissenschaften. 1788 schließlich, am Gipfel seiner Karriere, wurde er erster Leibarzt der Königin und mit der Aufnahme in die Académie française geehrt.3

Vicq d’ Azyr zeichnete zunächst allein verantwortlich als Herausgeber der »Encyclopédie méthodique. Médecine« und schrieb auch das Vorwort dazu. Die Anlage des Werks und die Auswahl der Schlagwörter geht auf ihn zurück, und er scheint auch bis zu seinem Tod im Jahr 1794 die maßgebliche Verantwortung für die Redaktion der folgenden Bände getragen zu haben, zu denen er eine ganze Anzahl von Beiträgen selbst lieferte. Als offizielle Herausgeberin zeichnete allerdings ab dem zweiten Band eine nicht näher charakterisierte »Gesellschaft von Ärzten« verantwortlich.

Nach dem Tode Vicq d’ Azyrs wechselte die Redaktionsspitze mehrfach. Womöglich auch aus diesem Grunde verzögerte sich die Veröffentlichung der weiteren Bände immer mehr. Als im Jahr 1830 der letzte, dreizehnte Band zusammen mit einem umfangreichen Index zum Gesamtwerk erschien, hatte die medizinische Wissenschaft im Vergleich zur Ausgangssituation Ende des 18. Jahrhunderts manchen tiefgreifenden Wandel durchgemacht und die einzelnen Bände spiegeln diese Entwicklung in ihrer zeitlichen Abfolge bis zu einem gewissen Grad. Mit dem »Dictionaire des sciences médicales«, das zwischen 1812 und 1822 in 60 Bänden erschien, war zudem ein noch ehrgeizigeres Unternehmen, getragen von den namhaftesten Ärzten des zeitgenössischen Frankreich, bereits zum Abschluß gebracht worden.

Der lange Zeitraum, über den sich die Veröffentlichung der »Encyclopédie méthodique« hinzog, und der dadurch erzwungene wiederholte Wechsel an der Redaktionsspitze bargen naturgemäß die Gefahr einer gewissen Heterogenität. Philippe Petit-Radel, Jacques Louis Moreau de la Sarthe und Auguste Thillaye, die nach dem Tode Vicq d’ Azyrs nacheinander an die Spitze des Unternehmens traten, fanden jedoch einen recht glücklichen Kompromiß. Sie bekannten sich ausdrücklich zu der von Vicq d’Azyr vorgegebenen Linie, nutzten aber andererseits die Gelegenheit, auch jüngere theoretische und empirische Ergebnisse in die von ihnen betreuten Bände aufzunehmen und die von Vicq d’Azyr angefertigte Liste der Schlagwörter entsprechend zu erweitern.4

Trotz der langen Veröffentlichungsdauer darf die »Encyclopédie méthodique. Médecine« schon aufgrund ihrer Anlage in einer Edition der wichtigsten Lexika der abendländischen Medizingeschichte nicht fehlen. In mehrfacher Hinsicht steht dieses Werk am Beginn einer neuen Phase in der Geschichte der medizinischen Lexikographie. Nie zuvor war ein derart umfangreiches Projekt eines medizinischen Lexikons in Angriff genommen worden. Ungewöhnlich war auch die Art und Weise, wie das Werk erstellt wurde. Nicht mehr ein einzelner Autor wie noch im Falle des berühmten »Medicinal dictionary« von Robert James (1743–1745), sondern nur ein Herausgeber beziehungsweise dann ein Herausgeberkollektiv zeichneten verantwortlich. Die Verteilung der Beiträge auf die einzelnen Autoren erfolgte zudem nach deren jeweiligen besonderen Interessen und Kompetenzen.5 Das Werk spiegelt so einen Prozeß zunehmender 'Wissensdifferenzierung und Spezialisierung in der zeitgenössischen Medizin, der dann bei der Redaktion der größeren medizinischen Enzyklopädien des 19. Jahrhunderts eine derartige Arbeitsteilung zur Norm werden ließ. Schließlich trat erstmals das Bemühen um eine inhaltliche Darstellung, teilweise sogar unter Heranziehung neuer eigener Forschungsergebnisse, im Gegensatz zu einer bloßen Begriffsklärung im Sinne eines Wörterbuchs fast gänzlich in den Vordergrund. Dem Anspruch einer wirklich umfassenden, enzyklopädischen Darstellung entsprechend, decken die13 Bände den gesamten Bereich der Medizin ab, unter Einschluß der Grundlagenwissenschaften. Weitgehend ausgeklammert blieb allerdings die Chirurgie, die zwar schon seit Jahrhunderten immer auch von einzelnen universitär gebildeten Ärzten betrieben wurde, aber damals erst allmählich von den zünftisch organisierten Handwerks-Chirurgen als gleichberechtigte wissenschaftliche Disziplin in die Domäne der akademisch gebildeten Ärzte überging. Ihr waren im Rahmen der »Encyclopédie méthodique« zwei eigene Textbände und ein Abbildungsband gewidmet, die von Petit-Rade1 und LaRoche betreut wurden. Breiten Raum nehmen dagegen, einem besonderen Interessensschwerpunkt Vicq d' Azyrs folgend, hygienische Themen und Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege ein. So findet der Leser unter dem Namen einzelner Städte zum Teil eingehende Informationen über deren jeweilige konkrete sanitären Probleme und die bisherigen Lösungsversuche. Mit einbezogen wurde auch die Tierheilkunde, die Vicq d’Azyr im Gegensatz zu den Vertretern einer eigenständigen Veterinärswissenschaft als Teil der Medizin verstanden wissen wollte.6 Besondere Beachtung finden in zahlreichen Beiträgen zudem auch historische Aspekte. Das gilt nicht nur für die teilweise recht ausführlichen und mit bibliographischen Angaben versehenen Artikel zur Biographie berühmter Ärzte. Auch der theoretische und praktische Umgang mit mancherlei physiologischen und klinischen Problemen wurde in eine langfristige, meist bis zur Antike zurückreichende Perspektive gestellt. So kann sich der heutige historisch interessierte Leser anhand der einzelnen Beiträge rasch einen umfassenden Einblick in die zeitgenössischen Vorstellungen und den aktuellen Wissensstand zu einem untersuchten Gegenstand verschaffen und zudem von dem teilweise sehr differenzierten Wissen über die vorangegangene historische Entwicklung profitieren, über das viele der zeitgenössischen Autoren dank ihrer umfassenden Belesenheit damals noch verfügten.

1 Vgl. den »Prospectus« zur »Encyclopédie méthodique«, der 1782 in Paris veröffentlicht wurde. Der Preis für das gesamte Werk sollte für Subskribenten 157 livres betragen.

2 Ursprünglich sollte Vicq d’ Azyr dariiber hinaus auch noch einen gesonderten Bereich der menschlichen und vergleichenden Anatomie und Physiologie übernehmen (Prospectus, S. 20-26).

3 Zur Biographie vgl. Dictionnaire historique de la médecine ancienne et moderne. Bd. 4. Paris 1839, S. 330-334, die Nouvelle biographie générale depuis les temps les plus reculés jusqu’à 1850-60. Hrg. v. Dr. Hoefer. Bd. 46. Paris 1866 (Nachdruck Kopenhagen 1869), Spalten 89-91 und den Beitrag von P. Huard und M. J. Imbault-Huart im Dictionary of scientific biography. Hrg. v. Charles Coulston Gillispie. Bd. 14. New York 1976, S. 14-17 (mit Sekundärliteratur); eine ausführliche Darstellung und Würdigung von Vicq d’ Azyrs Werken bietet Jacques L. Moreau de la Sarthe in seinem «Discours sur la vie et les ouvrages de Vicq d’Azyr zu Beginn der von ihm herausgegebenen Oeuvres de Vicq-d’Azyr. Paris An XIII, S. 1-88.

4 Vgl. die Vorworte zu Bd. 10 (1821) von Moreau de la Sarthe und zu Bd. 12 (1827) von Thillaye.

5 Entsprechende Listen der Autoren mit ihren jeweiligen Spezialgebieten wurden anfangs den einzelnen Bänden vorangestellt.

6 Vgl. Huard/Imbault Huart (wie Anm. 3), S. 15.